«Lob stärkt den Selbstwert»
18.02.2022 Gesellschaft, GesundheitRaja Breig
Frau Jung Strub, was ist der Unterschied zwischen ADS und ADHS?
Anita Jung Strub: An sich ist es dasselbe. Betroffene beider Syndrome haben mit innerer Unruhe und Konzentrationsschwächen zu kämpfen. ADS bedeutet ja ...
Raja Breig
Frau Jung Strub, was ist der Unterschied zwischen ADS und ADHS?
Anita Jung Strub: An sich ist es dasselbe. Betroffene beider Syndrome haben mit innerer Unruhe und Konzentrationsschwächen zu kämpfen. ADS bedeutet ja Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom. Das H in ADHS steht zusätzlich für Hyperaktivität. Betroffene von ADHS sind impulsiv, zappelig und rastlos. Diese Version tritt aktuell ungefähr dreimal häufiger auf, ist allerdings auch auffälliger und wird deshalb öfter diagnostiziert. «ADHSler» wurden früher als Zappelphilipp, «ADSler» als Hans Guck-in-die-Luft bezeichnet.
Was halten Sie von Begriffen wie diesen?
Im Grunde finde ich, dass an den Begriffen definitiv etwas dran ist und sie die psychische Störung relativ gut beschreiben. Dennoch sind sie natürlich nur eine Vereinfachung für etwas sehr Komplexes.
Wo liegt die Grenze zwischen einem gesunden unkonzentrierten Kind und einem ADHS-Betroffenen?
Die Grenze ist fliessend, was dazu führt, dass viele Kinder fälschlicherweise diagnostiziert werden. Nicht jedes chaotische Kind hat ADHS. Betroffene leiden an einer Störung, bei der die Kreuzung der Synapsen nicht stattfindet. Dies führt dazu, dass sie eine ganz andere Art zu leben haben. Für Eltern oder in einer Partnerschaft kann dies äusserst anstrengend sein. Am anstrengendsten sind Mädchen meiner Erfahrung nach im Alter von 11 bis 13 Jahren, Jungen um den 9. und anschliessend wieder um den 14. Geburtstag herum. Schätzungen zufolge leiden 8 bis 10 Prozent der Menschen an ADHS, pro Schulklasse sind ungefähr drei Kinder davon betroffen.
Warum haben ADHS-Betroffene mit einem geringeren Selbstwertgefühl zu kämpfen?
«ADHSler» sind von ihrer Geburt an auffällig. Meist sind sie Schreikinder und schlafen nicht richtig, zudem sind sie motorisch ungeschickt. In der Schule ecken sie mit ihrer Art immerzu an, da sie ausschliesslich das tun, was sie interessiert. Sie entsprechen also von Anfang an nicht der Norm und erhalten von ihrem Umfeld – von den Eltern, den Nachbarn sowieso – andauernd negative Impulse. Da ist es keine Überraschung, dass so gut wie alle Betroffenen mit einem geringen Selbstwert zu kämpfen haben – auch wenn sie dies oft sehr gut verstecken können.
Wie lässt sich ihr Selbstwert stärken?
Mit viel Lob und positiven Rückmeldungen. Das ist bei einem Kind, das immerzu negativ auffällt, natürlich schwierig. Während das Aufhängen der Jacke am richtigen Ort beispielsweise für die meisten Zweitklässlerinnen und Zweitklässler eine Selbstverständlichkeit darstellt, können ADHS-Betroffene Dinge wie diese teilweise im Alter von 15 Jahren immer noch nicht. Sollten sie es dann aber einmal doch hinkriegen, müssen Sie das hervorheben. Achten Sie ausserdem darauf, Ich-Botschaften zu vermitteln. Greifen Sie das Kind also nicht direkt an, sondern sagen Sie: «Mich ärgert, dass …». Grundsätzlich ist es unvermeidbar, dass Sie das Kind so akzeptieren sollten, wie es ist, und es nicht als dumm betrachten. Viele «ADHSler» sind sehr intelligent. Ihre Aufmerksamkeitsdefizite führen allerdings dazu, dass nur die wenigsten von ihnen die Matur schaffen.
Ist ADHS heilbar?
Nein. ADHS ist erblich bedingt, die innere Unruhe bleibt im Normalfall ein Leben lang. Betroffene können lediglich lernen, damit umzugehen und trainieren sich beispielsweise alternative Verhaltensweisen an. Sie lernen zu erkennen, was sie wütend macht, und vermeiden jene Situationen dementsprechend. Meist können Betroffene erst ab circa 27 Jahren einigermassen alleine leben. Vielen Erwachsenen merkt man kaum mehr etwas von der Erkrankung an, andere wiederum haben in der Arbeitswelt grosse Schwierigkeiten, da sie oft sehr langsam sind.
Lässt sich der Diagnose ADHS auch Positives abgewinnen?
Auf jeden Fall. Betroffene sind häufig überdurchschnittlich kreativ, insbesondere, was das Lösen von Problemen betrifft. Zudem sind sie meist sehr einfühlsam, tierlieb und haben einen starken Gerechtigkeitssinn.
Werden Betroffenen zu voreilig Medikamente verschrieben?
Ja und nein. Ärztinnen und Ärzte geben meiner Erfahrung nach gerne sehr schnell Medikamente, Eltern sind dafür teilweise zu vorsichtig. Es gibt Betroffene, die ihr Leben nur mithilfe von Medikamenten meistern können. Mein Rat an Eltern: Seien Sie offen.
Wie unterstützt die ADHS-Organisation Elpos Betroffene und Angehörige?
Wir organisieren Veranstaltungen und führen Weiterbildungen für Fachpersonen durch. Zudem leiten wir Selbsthilfegruppen und bieten sowohl telefonische als auch persönliche Beratungsgespräche an, von denen überwiegend Eltern sowie Partnerinnen und Partner von Betroffenen Gebrauch machen. Oft lassen sich auch Lehrpersonen und Betroffene selbst bei uns beraten. Letztere vermitteln wir beispielsweise an Psychotherapeutinnen und -therapeuten weiter, da ADHS-Betroffene häufig auch anfälliger für Depressionen, Delinquenz und Suchtverhalten sind. Sie gehen stets an ihre Grenzen und darüber hinaus. Insbesondere bei Männern ist auch Aggression ein häufiges Problem. Wir geben den Betroffenen Tipps, wie sie sich beruhigen können. Lavendel kann beispielsweise eine beruhigende Wirkung haben, mit dem Zeigefinger über die Unterlippe zu fahren ebenso.
Zur Person
rab. Anita Jung Strub ist 53 Jahre alt und wohnt in Reinach. Sie hat lange Zeit als Sozialpädagogin bei der Kesb sowie bei diversen Kinder- und Jugendheimen gearbeitet. Als ADHS in ihrem Familienkreis aufgetreten ist, begann sie, sich intensiver mit dem Thema auseinanderzusetzen. Seit sieben Jahren leitet Jung Strub die Beratungen von «Elpos Nordwestschweiz».