Wird Gemeinderat zum Männerklub?
14.01.2022 Baselbiet, Gemeinden, Politik, Bezirk Sissach, Sissach
Christian Horisberger
«Geschlechterausgeglichene Gremien vertreten die Bevölkerung besser und sind erwiesenermassen erfolgreicher», sagt Maya Graf, Co-Präsidentin der «alliance F», der Stimme der Frauen in der Politik. Deshalb wünscht sich die grüne ...
Christian Horisberger
«Geschlechterausgeglichene Gremien vertreten die Bevölkerung besser und sind erwiesenermassen erfolgreicher», sagt Maya Graf, Co-Präsidentin der «alliance F», der Stimme der Frauen in der Politik. Deshalb wünscht sich die grüne Ständerätin aus Sissach, dass die Ende Juni aus dem Gemeinderat zurücktretende Beatrice Mahrer (parteilos) durch eine Frau ersetzt wird. «Es muss unbedingt wieder eine Frau her», fordert auch Alice Leber. Die erste Sissacher Gemeinderätin kann sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass der Gemeinderat erstmals seit 38 Jahren wieder ausschliesslich aus Männern bestehen könnte.
Alice Leber war 1984 in den Sissacher Gemeinderat eingezogen. Sie war Hausfrau, Aushilfslehrerin und Mutter, ihre Jüngste im Teenager-Alter. Sie habe im Gemeinderat keinen leichten Stand gehabt damals, blickt die 82-Jährige zurück. Die Herren Kollegen im Gremium hätten ihr als technisch nicht versierter Primarlehrerin das Strassenwesen zugewiesen, um sie möglichst rasch wieder loszuwerden, erzählt sie. Aber Leber war zäh. Nach der ersten Amtsperiode lehnte sie das Angebot ihrer Kollegen ab, das Departement zu wechseln, nachdem sie sich in die Materie eingearbeitet hatte, und betreute in der Folge anspruchsvolle Dossiers wie die Umfahrung Sissach oder «Bahn 2000».
Fünf Amtsperioden
Um von den Männern ernst genommen zu werden, habe sie mehr leisten müssen als diese, sagt die Sozialdemokratin: «Die anderen Departementschefs brauchten an einer Sitzung eine Aussage nicht zu begründen, ich hingegen wurde gelöchert.» Jemand anderes hätte das Handtuch geworfen, Leber hingegen fand Gefallen daran, sich zu behaupten und kandidierte vier weitere Male erfolgreich. Ab 1996, mit der Wahl von Petra Schmidt, der späteren Gemeindepräsidentin, habe sie sich dank deren «moralischer Unterstützung» im Gremium bedeutend wohler gefühlt, sagt Leber. «Ich hatte mir bei blöden Sprüchen der Kollegen angewöhnt, wegzuhören, Petra hingegen hat sich gewehrt, da habe ich von ihr profitiert.»
Gegenüber damals, als sie in die Gemeindepolitik einstieg, habe sich vieles verändert, sagt Leber. Zum Guten: Frauen seien heute besser ausgebildet, sie seien in der Politik längst keine Exotinnen mehr, es gebe Tagesbetreuungsangebote für Kinder und Teilzeit arbeitende Männer würden nicht mehr schräg angeschaut.
Dennoch sind die meisten Gemeinderäte nach wie vor stark männerlastig. Das regte Beatrice Mahrer in einem im Mai im «Fokus Sissach» erschienenen Beitrag zu folgendem Gedanken an: «Ich frage mich oft, warum das Ungleichgewicht so gross ist mit sechs Männern und einer Frau. Ich kann etwas mitprägen, mitarbeiten, gestalten, Neues lernen. Es ist eine spannende, aber auch herausfordernde Aufgabe.» Deswegen habe sie das nie verstanden, als sie gefragt wurde, «weshalb ich mir das antue», sagt Mahrer nun. Auch das mitfühlende «Das gönne ich dir» nach der Bekanntgabe ihres Rücktritts habe sie befremdet: «Ich bereue keinen Moment und hatte nie das Gefühl, dass ich mir etwas antue.»
Regina Werthmüller, Landrätin (parteilos) und Mitinitiantin des Sissacher Frauenstammtischs, suchte nach den Gemeindewahlen 2020 in der «Volksstimme» nach Gründen für den tiefen Frauenanteil in den Exekutiven: Häufig hätten Frauen für das Gemeinderatsamt neben Familie und/oder Beruf keine Zeit und Energie übrig. Habe eine Frau kleine Kinder zu betreuen, stünden diese zuoberst auf der Prioritätenliste. Seien die Kinder dann grösser, würden sich viele Frauen statt auf die Politik verstärkt aufs Berufsleben konzentrieren oder sie seien möglicherweise bereits vielseitig engagiert.
«Vorne hinstehen»
Hinzu komme, dass Frauen sich vielleicht weniger gerne exponieren, denn mit einem solchen Amt rücke man in die Öffentlichkeit, so Werthmüller weiter. Leber bestätigt: Mehr noch als in der Legislative – mit einem deutlich höheren Frauenanteil – müsse man im Exekutivamt «vorne hinstehen», um seine Geschäfte zu vertreten und auch Niederlagen einzustecken: «Das ist in einem Dorf nicht immer lustig.» Dass es im Gemeinderat einen breiten Rücken braucht, bestätigt Beatrice Mahrer: «Wenn man Kritik persönlich nimmt, hat man schon am ersten Tag verloren.» Ebenso wichtig sei ein persönliches Umfeld, von dem man unterstützt werde. Das aber, so Mahrer, gelte auch für Männer. Und wie Frauen hätten auch viele Männer, die sich politisch engagieren, daneben Familie und Beruf und müssten dort Abstriche machen. Das von Frauen oft genannte Argument «zu viel um die Ohren» zu haben, lässt sie also nur bedingt gelten.
Noch vor der Ankündigung ihres Rücktritts hat die abtretende Gemeinderätin mehrere Frauen, die sie sich im Amt hätte vorstellen können, auf eine Kandidatur angesprochen und ihnen gleichzeitig angeboten, über die Aufgabe ausführlich Auskunft zu geben. Keine einzige von ihnen habe sich bei ihr daraufhin gemeldet – noch nicht einmal, um Erkundigungen einzuholen. «Das hat mich enttäuscht.»
«Es braucht Gemeinderätinnen», sagt Alice Leber unerschütterlich. Und stösst damit auf breite Zustimmung: Sowohl Rolf Cleis von der «Stechpalme» als auch Stephan Marti, Präsident von Pro-Sissach, ist daran gelegen, dass Mahrers Sitz in weiblicher Hand bleibt. Frauen brächten oftmals eine andere Perspektive in die Diskussion, sagt etwa der bürgerliche Marti. Auch Sandra Strüby, Präsidentin der SP Sissach und Umgebung, wünscht sich weiterhin eine Frau in der Sissacher Exekutive, natürlich. Ihr sei bewusst, dass ihre Partei, die auf allen Ebenen auf eine angemessene Vertretung von Frauen pocht, stärker als andere gefordert ist, entsprechendes Personal zu bringen. «Aber zwingen können wir ja niemanden.» Die SP werde sich sicherlich bemühen, für die Ersatzwahl eine Frau zu gewinnen, sagt sie. Der Vorstand werde in einigen Tagen über die Ersatzwahl sprechen.
Alle gemeinsam für eine Frau
Bei der «Stechpalme», die mit Präsident Peter Buser und Robert Bösiger im Gemeinderat vertreten ist, kommt die Ersatzwahl ebenfalls in den kommenden Tagen auf den Tisch. In der Besprechung werde es darum gehen, Namen potenzieller Kandidierender zusammenzutragen, die man anschliessend persönlich ansprechen werde, sagt Rolf Cleis – Frauen, aber auch Männer. Denn die Suche nach Interessierten für Mandate auf Gemeindeebene sei generell zunehmend schwierig.
So habe die «Stechpalme» bei den letzten Gemeindewahlen einen Gemeindekommissionssitz infolge eines Rücktritts kampflos abgeben müssen. Den Luxus, sich ausschliesslich nach Kandidatinnen umzusehen, will sich die «Stechpalme» offenbar nicht leisten. Pro-Sissach habe sich mit der Ersatzwahl noch nicht auseinandergesetzt, sagt Stephan Marti. Sicherlich werde es nicht leicht, eine Kandidatin ausfindig zu machen.
Alice Lebers Vorschlag: Die Parteien raufen sich zusammen und heben gemeinsam eine Frau auf den Schild. Marti bezeichnet ein Zusammenspannen aller Kräfte im Interesse einer Frauenkandidatur als «ideales Szenario», obwohl schwierig zu realisieren. SP-Präsidentin Strüby ist zurückhaltend. Würde in den eigenen Reihen keine Kandidatin, jedoch ein guter und engagierter Kandidat gefunden, würde die SP mit ihm wohl auch gegen eine Frau aus dem bürgerlichen Lager antreten, sagt sie. Das sei allerdings ihre persönliche Einschätzung, beschliessen werde darüber letztendlich der Parteivorstand.
Die Ersatzwahl für den frei werdenden Sitz findet am 15. Mai statt. Da die Möglichkeit der stillen Wahl besteht, können Kandidaturen bis zum 28. März eingereicht werden. Maya Graf blickt bereits weiter in die Zukunft: «Es wäre wichtig, wenn auf die Gesamterneuerungswahlen von 2024 hin alle Parteien und Gruppierungen gleich mehrere Kandidatinnen aufstellen würden. Das macht es für die einzelnen Frauen einfacher, motiviert und macht erst noch Spass.»