«Männer lieben das Spiel, Frauen das Training»
11.01.2022 Baselbiet, Sport, Bezirk Sissach, Sissach
Christian Horisberger
Belinda Bencic ist Sportlerin des Jahres. Als Tennisprofi sind Sie mit der Wahl bestimmt einverstanden, Frau Züger.
Joanne Züger: Klar. Ich habe die Verleihung der Sports Awards mitverfolgt und sogar für Belinda ...
Christian Horisberger
Belinda Bencic ist Sportlerin des Jahres. Als Tennisprofi sind Sie mit der Wahl bestimmt einverstanden, Frau Züger.
Joanne Züger: Klar. Ich habe die Verleihung der Sports Awards mitverfolgt und sogar für Belinda angerufen. Ich ging davon aus, dass sie gewinnen würde, weil sie es in dieser Saison wirklich verdient hat: Zwei Olympiamedaillen muss man erst einmal holen. Ausserdem ist Tennis eine Weltsportart mit sehr vielen Fans.
Martina Hingis hatte bei solchen jeweils einen schwereren Stand – trotz Nummer 1 und Weltsportart. Worin unterscheidet sich Belinda Bencic von ihr?
Martina ist immer ihren eigenen Weg gegangen, was sie ja auch zum Erfolg führte. Sie liess sich nie gross von jemandem reinreden, sondern verschloss sich im Sinne von: «Lasst mich machen.» So verlor Martina aber auch viele Fans, weil sie ihnen das Gefühl gab, sie wolle nichts von ihnen wissen. Belinda hingegen ist sehr offen und wirkt vor der Kamera sehr sympathisch. Alle Interviews, die sie in Tokio gegeben hat, waren mega cool.
Haben Sie Bencic persönlich schon kennengelernt?
Ja, ich durfte mit ihr im Interclub Doppel spielen. Das war 2020 mit Chiasso, wir holten den NLA-Titel. Es war eine super Zeit mit ihr. Belinda ist sehr bodenständig, sie hat uns viel gezeigt, und wir konnten sie fragen, wie sie gewisse Dinge handhabt. Ich bin mit ihr auch jetzt noch ab und zu in Kontakt.
Was zeichnet Belinda Bencic als Sportlerin aus?
Sie gibt alles für den Sieg. Sie hat die ausgeprägte Fighting-Mentalität ihres Vaters, der vom Eishockey kommt, mitbekommen: Jeden Match so angehen, als wäre es ein Final.
Sind Sie auch Kämpferin und Arbeiterin oder das grosse Talent?
Eine Kombination aus beidem. Ich habe von Natur aus einen schnellen Arm, mit dem ich den Ball stark beschleunigen kann, das ist sicher eine gute Voraussetzung. Früher spielte ich mehr mit dem Talent und absolvierte nicht mehr Trainings als nötig. In den vergangenen zehn Jahren habe ich mich immer etwas mehr zur Arbeiterin entwickelt. Es wird einem bewusst, dass alle trainieren müssen, um sich durchzusetzen, egal, wie viel Talent sie haben. Das gilt selbst für einen Roger Federer, obwohl man kaum talentierter sein kann als er.
Haben Sie Vorbilder?
Nicht unbedingt. Ich schaue mir gerne Frauentennis an, um zu lernen. Ich sehe allen Frauen gerne zu, beobachte, was sie tun und überlege, was ich an mir verbessern kann.
Wie Martina Hingis werden auch Sie von Ihrer Mutter betreut. Wer von Ihnen beiden will den Erfolg mehr?
Ich. Von meinem Mami aus könnte ich morgen sagen, dass mit dem Tennis Schluss ist, und es wäre für sie okay. Sie unterstützt mich und will für mich auch den Erfolg, aber das Tennis ist für sie nicht alles im Leben. Sie möchte nicht nur eine Athletin haben, sondern auch eine Tochter. Das ist uns beiden sehr wichtig.
Wie funktioniert die Partnerschaft zwischen Mutter und Tochter?
Meine Mutter ist mein Headcoach und unterstützt mich vor allem in der Planung und im Management. Trainiert werde ich von meinen Stiefvater Rodolphe Handschin und Mario Saric. Mit meiner Mutter stehe ich nicht mehr oft auf dem Platz. Denn manchmal ist die Trennung zwischen Mutter und Trainerin schwierig.
Schwierig oder unmöglich?
Die beiden Rollen – Mutter und Trainerin – lassen sich nicht immer trennen. Da muss man sich nichts vormachen. Wenn wir zusammen auf dem Platz stehen, ist sie emotionaler als mit anderen und ich bin es auch. So kann es sein, dass sie eine Korrektur anbringt und ich nehme sie nicht von meiner Trainerin an, die recht hat, sondern ärgere mich über mein Mami, das es besser wissen will. Das kann zu Reibereien führen. Die sind aber nach einigen Minuten vergessen. Zu Hause haben wir nie Streit.
Begleitet Ihre Mutter Sie zu Ihren Turnieren?
Bei etwa einem Drittel der Turniere ist sie mit dabei. Ich bin gerne mit ihr unterwegs. Es gibt Phasen, da ist man nach einer blöden Niederlage down, da ist mir mein Mami, das mich in den Arm nehmen und trösten kann, näher als ein Trainer. Natürlich ist es auch schön, mit ihr einen Erfolg feiern zu können.
Sie sind Berufssportlerin, und Ihr Job ist ein Spiel. Ist Tennis für Sie eher Kampf und Karriere oder Spass und Spiel?
Beides: Für mich ist der Kampf der Spassfaktor. Ich liebe es, bei 35 Grad ein dreistündiges Match zu spielen. Dieser Schmerz macht mir Spass; in dieser Situation weiss man genau, man muss durchbeissen. Das ist eine Art Sucht. Genau für solche Momente, in denen einem alles abverlangt wird – Präzision, Konzentration, Kondition –, trainiert man.
Solche Spiele zu verlieren, tut wohl besonders weh.
Ja, diese Niederlagen schmerzen am meisten. Jede Niederlage ist sehr schmerzlich, und man muss damit umgehen und lernen, wieder aufzustehen. Tennis ist ein Sport, bei dem man sehr oft verliert. Wenn es mir gut läuft, gewinne ich im Jahr zwei Turniere. Ansonsten gehe ich immer mit einer Niederlage nach Hause – egal, wie gut die Woche gelaufen ist.
Wo bleibt da die Freude am Spiel?
Man muss sich eben auch ins Bewusstsein rufen, dass es ein Spiel ist, dass man auch spielt und nicht nur kämpft und trainiert. Das ist eine «Krankheit» von uns Frauen. Wir Frauen trainieren, Männer spielen.
Erklären Sie das bitte.
An Turnieren für Frauen und Männer stehen am Morgen ab 8 Uhr nur Frauen auf den Plätzen. Sie trainieren meistens mit ihren Coaches. Die Männer sind lockerer: Sie kommen frühestens um 10 Uhr auf den Platz und spielen Doppel, um Spass zu haben. Männer lieben das Spielen, wir Frauen lieben es zu trainieren, weil uns das ein gutes Gefühl gibt.
Ohne Fleiss kein Preis also. Ist Tennis für Sie auch eine Lebensschule?
Auf jeden Fall. Ich weiss nicht, wer ich ohne das Tennis wäre. Auch neben dem Platz hat es mich geprägt. Ich reiste schon früh alleine um die halbe Welt und organisiere die Flüge und Hotels auf eigene Faust. Tennis fördert neben der Selbstständigkeit auch die Belastbarkeit, was den Kopf angeht. Ich habe neben dem Leistungssport mit weniger als 50 Prozent Anwesenheit das Sportgymnasium absolviert und seit September 2020 studiere ich an einem Institut in Stuttgart online Sport-Management – parallel zum Profisport.
Sie sind Tennisprofi. Können Sie vom Sport eigentlich leben?
Überhaupt nicht. Viele Leute haben das Gefühl, Tennisspieler würden auf grossem Fuss leben, es ist aber bei Weitem nicht so. Durch das Herumreisen ist es eine sehr kostenintensive Sportart. Nur die Top 100 können davon leben, alle anderen zahlen drauf.
Und wo stehen Sie in der Weltrangliste? Wie war Ihr Jahr?
Ich habe dieses Jahr 33 Turniere gespielt und meine Ziele mehr als erreicht. Angepeilt hatte ich die Top 400, erreicht habe ich Weltranglistenplatz 280.
Hat Corona diesen zügigen Aufstieg allenfalls begünstigt? Waren die Turniere schwächer besetzt?
Im Gegenteil: Nach dem Lockdown wollten alle wieder spielen, es fanden aber wegen Corona nur halb so viele Turniere statt als üblich. So waren jene, die durchgeführt wurden, viel stärker besetzt als sonst. Ich musste überall durch die Qualifikation mit drei zusätzlichen Spielen, ehe ich WTA-Punkte sammeln konnte.
Wie kamen Sie ansonsten mit den Auswirkungen der Pandemie zurecht?
Während des Lockdowns konnte ich gut und viel an meiner Kraft und Kondition arbeiten. Das war das Positive. Problematisch waren hingegen kurzfristig abgesagte Turniere, der Stress, dass man im Ausland in Quarantäne muss, die dauernden Tests … Alleine im ersten Halbjahr wurde ich mehr als 100 Mal getestet, immer negativ. Das Stäblein in der Nase spüre ich schon gar nicht mehr.
Neben Corona warf ein Skandal einen weiteren Schatten auf Ihren : Die WTA boykottiert Turniere in China, seit die chinesische Spitzenspielerin Peng Shuai von einem Regierungsbeamten zu Sex genötigt worden sein soll und verschwunden war. Stehen Sie hinter dem Boykott?
Ja, ich finde es mega cool, dass der Weltverband ein Zeichen setzt. Man muss sich aber bewusst sein, dass für die Spielerinnen damit Millionen verloren gehen. An den Turnieren in China gibt es neben den Grand Slams die höchsten Preisgelder zu gewinnen. Mit der ITF hat übrigens ein weiterer Frauentennis-Dachverband nachgezogen.
Was wissen Sie als Tennis-Insiderin über die Affäre?
Nicht mehr, als man den Medien entnehmen kann. Ich kenne Peng Shuai persönlich nicht. Als ich das Statement auf ihrem Social-Media-Kanal sah – das war noch vor ihrem Verschwinden – dachte ich, dass ich das an ihrer Stelle nicht getan hätte. Es ist heikel, in China einem hohen Politiker öffentlich etwas anzuhängen. Erst recht wäre ich hinterher nicht in China geblieben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sportlich wieder ganz nach vorne kommen wird, was ich sehr schade finde.
Sprechen wir über die Zukunft. Was peilen Sie 2022 an?
Ich möchte die Qualifikation für die Grand Slams spielen. Für Paris im Mai dürfte meine Klassierung ausreichen, sofern ich Anfang Jahr einigermassen gut spiele. Dann folgen Wimbledon, einige Schweizer Turniere und die Interclub-Meisterschaft und dann Ende August die US Open. Der Sommer wird durchgetaktet sein.
Sie sind bereits 21 Jahre alt. Andere Athletinnen haben in diesem Alter längst die Weltspitze erreicht. Sind Sie nicht etwas spät dran?
Frauen sind durchschnittlich 25 bis 26 Jahre alt, wenn sie die Top 100 erreichen. Die sehr jungen Frauen, die in die Spitze vorstossen – Martina Hingis als Weltnummer 1 mit 16 Jahren ist das Paradebeispiel – sind die Ausnahme. Das Alter der Spielerinnen auf der Tour wird zudem immer höher. Mit 30 ist man längst nicht weg vom Fenster. Ich fühle mich daher nicht unter Zeitdruck, zumal ich fitnessmässig noch zulegen kann.
Werden Sie jemals ein WTA-Turnier gewinnen? Oder liebäugeln Sie sogar mit einem Grand-Slam-Titel?
Bereits die Teilnahme an Grand-Slam-Turnieren wäre grossartig, speziell in Wimbledon. Das Prestige, die Tradition, der Rasen ... das alles finde ich unglaublich schön.
Sie haben 2018 als Juniorin bereits an Wimbledon geschnuppert. Mit welchem Erfolg?
Es war mein bestes Grand Slam als Juniorin. Ich habe zwei Runden überstanden. Wenn das kein gutes Omen ist …
Zur Person
ch. Mit fünf Jahren hat Joanne Züger durch ihre Mutter Nicole, einst selber Spitzenspielerin und heute professionelle Trainerin, das Tennis entdeckt. Mit Ausnahme einer sehr langen Pause für zwei Knieoperationen hat sie das Racket nie aus der Hand gelegt. Die 21-Jährige wuchs in Sissach auf, wo sie noch immer zu Hause ist, wenn sie nicht auf allen Kontinenten Turniere bestreitet. Sie absolvierte das Sportgymnasium in Liestal sowie in Magglingen die Spitzensportler-RS. Aktuell studiert sie Sport-Management.