«In der Mitte können wir die Politik bestimmen»
31.12.2021 Baselbiet, Parteien, GesellschaftMartin Geiser und Andrea Heger (EVP) im Gespräch
2022 feiert die EVP Baselland ihr 100-Jahre-Jubiläum. Im Doppelinterview sprechen der Präsident und die Vizepräsidentin über die Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Kantonalpartei. Beide sehen die zunehmende ...
Martin Geiser und Andrea Heger (EVP) im Gespräch
2022 feiert die EVP Baselland ihr 100-Jahre-Jubiläum. Im Doppelinterview sprechen der Präsident und die Vizepräsidentin über die Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Kantonalpartei. Beide sehen die zunehmende Polarisierung der Parteilandschaft als Chance für die EVP.
Janis Erne
Frau Heger und Herr Geiser, wie lange sind Sie schon Mitglied der EVP?
Martin Geiser: Ich bin seit fast 40 Jahren Mitglied, davon die ersten 10 Jahre im Kanton Bern. Präsident der EVP Baselland bin ich nun seit vier Jahren.
Andrea Heger: Wow – da kann ich nicht mithalten. Nachdem ich als langjährige Sympathisantin für den Sektionsvorstand und eine Landratskandidatur angefragt worden bin, habe ich mich 2014 für einen Beitritt entschieden.
Ist die EVP die gleiche Partei wie vor 100 Jahren oder gab es bei gewissen Themen einen Wertewandel?
Geiser: Die EVP lässt sich seit ihrer Gründung von den Grundsätzen des Evangeliums leiten, deshalb hat kein Wertewandel stattgefunden. Klar, die Prioritäten haben sich stets der Aktualität angepasst: Das Gewässerschutzgesetz von 1964 etwa entstand auf Initiative eines EVP-Nationalrats. Heute beschäftigen uns prioritär umweltschutz- und gesellschaftspolitische Themen wie das Klima oder die Verteilung des Reichtums.
Heger: Die Herzensthemen liegen in der Partei-DNA, jedoch passt sich die Sprache der Zeit an. Ein Beispiel: «Der Schutz der Schöpfung» entspricht heute nur noch dem Alltagswortschatz eines kleinen Teils der Gesellschaft.
Wie ist die Kantonalpartei heute aufgestellt – wo gibt es Handlungsbedarf?
Heger: Der Handlungsbedarf geht nie aus. Es gilt stets aufs Neue, den Austausch unter den Mandatstragenden und im EVP-Freundeskreis zu pflegen und zu erweitern. Ich sehe bei den Frauen und Jungen sowie im unteren Baselbiet Potenzial.
Geiser: Insgesamt sind wir gut aufgestellt. Seit Langem hat die EVP einen Wähleranteil von 5 Prozent und vier Landratsmitglieder. Gäbe es im Baselbiet ein Wahlsystem, das alle Stimmen berücksichtigen würde, hätten wir bereits seit einigen Jahren Fraktionsstärke. 50 Mandatstragende, darunter neun Gemeinderatsmitglieder mit vier Präsidien, vertreten die EVP im Baselbiet. Die Sektionen sind unterschiedlich unterwegs: Es gibt blühende und solche mit Steigerungspotenzial.
Auf der Website der Partei steht Folgendes: «Gemeinsam für eine Schweiz des Miteinanders.» Wie wollen Sie als EVP Baselland eine durch Corona gespaltene Gesellschaft wieder vereinen?
Heger: Das ist eine enorme Herausforderung. Doch der Ansporn, die Gesellschaft kitten zu wollen, wurde der EVP mit in die Wiege gelegt. Das war vor 100 Jahren, in einer Zeit grosser Spannungen zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft, ein wichtiger Gründungsgrund.
Geiser: Innerparteilich gibt es bei uns seit jeher unterschiedliche Meinungen und eine gute Diskussionskultur. Wir respektieren die Meinungen von Andersdenkenden und suchen nach verbindenden Elementen, um gemeinsam weiterzukommen.
Im Landrat finden Linke und Bürgerliche immer seltener einen Konsens. Erachten Sie die Polarisierung der Parteilandschaft als Gefahr oder Chance für eine Mittepartei wie die EVP?
Geiser: Wir waren schon immer eine Brückenbauerin. Für die nationale Ebene wurde dies kürzlich durch eine Auswertung von CH Media bestätigt: Die ersten beiden Plätze im Brückenbauer-Ranking besetzte die EVP. Auch auf kantonaler Ebene sehe ich die Mitte-Position als Chance. Wenn sich Rechts und Links blockieren, können wir in der Mitte die Politik bestimmen. Eine Auswertung der Landratslegislatur 2011 bis 2015 ergab, dass ich zusammen mit den anderen Mitteparteien ungefähr 90 Prozent der Abstimmungen gewonnen habe.
Heger: Als ich 2015 in den Landrat kam, paktierte die damals aufgrund des Wahlsystems übermässig stark vertretene SVP sehr oft mit der FDP und der CVP. Die drei Parteien stellten einen grossen Block mit wenig Diskussionsbereitschaft dar, was die Wählerschaft letztlich nicht goutiert hat. Die aktuelle Zusammensetzung ist viel ausgewogener, was die Kompromissbereitschaft steigert. Dadurch und dank eines guten Netzwerkens erhält die EVP wieder mehr Mitgestaltungsmöglichkeiten.
Die Zugehörigkeit der Schweizer Bevölkerung zur evangelisch-reformierten Kirche nahm in den vergangenen 20 Jahren um ein Drittel ab. Trotzdem konnte die EVP Baselland ihren Wähleranteil konstant bei 5 Prozent halten. Wie gelingt ihr das?
Geiser: Zum einen berufen wir uns zwar wie die evangelisch-reformierte Kirche auf das Evangelium. Jedoch sind wir nicht deckungsgleich und kein parteipolitischer Arm der evangelisch-reformierten Kirche. Die Basis der EVP setzt sich aus Mitgliedern von reformierten Freikirchen und der katholischen Kirche sowie aus kirchlich weniger Aktiven, die unsere Werte teilen, zusammen. Zum anderen weiss die Wählerschaft, was sie mit der EVP wählt. Wir stehen zu unseren Werten und vertreten diese, auch wenn sie nicht dem «Mainstream» entsprechen. Denn bis heute ist die EVP eine von grossen Verbänden und Geldgebern unabhängige Volkspartei geblieben.
Auf welche Themen wird sich die EVP Baselland zukünftig fokussieren?
Heger: Im Fokus stehen Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit und Menschenwürde. Wir werden unseren Schwerpunkt noch stärker auf ein Baselbiet ohne Ausbeutung setzen. Dabei denken wir an Arbeitsausbeutung und Menschenhandel – sei es auf Baustellen, im Betreuungsbereich oder Sexgewerbe. Angestossen durch die Pandemie haben wir ausserdem den Eindruck, dass das Bedürfnis einer breiten Bevölkerungsschicht gewachsen ist, vermehrt über ethische Aspekte nachzudenken – Palliative Care, Sterbehilfe und Organspende sind Stichworte. Zudem ist das Zeitfenster offen, um bei kantonalen und nationalen Steuerdiskussionen dafür zu sorgen, dass die Wertschätzung von Familien und Care-Arbeit-Verrichtenden genügend berücksichtigt wird. Schliesslich steht im Baselbiet mit der anstehenden Wahlreform nichts weniger als die längerfristige Wirksamkeit der EVP zur Debatte.
Welche besonderen Aktivitäten sind zum Jubiläum geplant?
Geiser: Am 14. Januar findet eine Online-Feier und am 9. Oktober eine Feier in Liestal statt. Beide Daten haben einen historischen Kontext: Am 9. Oktober 1921 hörten an einem Volkstag in Sissach rund 600 Leute den Arzt, Schriftsteller und EVP-Nationalrat Hans Hoppeler an. Im Anschluss an diese Rede wurde beschlossen, die EVP Baselland zu gründen, ehe am 14. Januar 1922 die formelle Gründung stattfand.