«Ökonomie steht über Tierrecht»
24.12.2021 Landwirtschaft, Sissach, Natur
Lara Uebelhart
Frau Blattner, wie kam es überhaupt dazu, dass Sie sich für ein Rechtsstudium entschieden haben? Und wie kam es zur Spezialisierung auf das Tierrecht?
Charlotte Blattner: Ich habe mich für das Rechtsstudium entschieden, ...
Lara Uebelhart
Frau Blattner, wie kam es überhaupt dazu, dass Sie sich für ein Rechtsstudium entschieden haben? Und wie kam es zur Spezialisierung auf das Tierrecht?
Charlotte Blattner: Ich habe mich für das Rechtsstudium entschieden, weil es ein Universalstudium ist. Damit stehen einem viele Wege offen. Und Tiere haben mich schon immer fasziniert. Die Kommunikation mit ihnen ist oft reichhaltiger als unter Menschen, wo das Nonverbale leider häufig verloren geht. Der Umgang mit Tieren zwingt dich, sensibler zu sein. Während meines Studiums habe ich allerdings nie etwas über das Tierrecht gelernt; das war nicht Teil der Ausbildung. Also habe ich mir die tierrechtlichen Grundlagen mehrheitlich im Selbststudium im Rahmen meiner Doktorarbeit erarbeitet. Da habe ich gemerkt: Das ist mein Ding. Seitdem packt mich das Thema jeden Tag aufs Neue.
Was muss man sich unter «rechtswissenschaftlicher Arbeit» vorstellen?
Rechtswissenschaften ermöglichen den Spagat zwischen praktischer Anwendung des geltenden Rechts und kritischer Arbeit zur Weiterentwicklung des Rechts. Während des Studiums habe ich an unterschiedlichen Zivilgerichten gearbeitet und damals auch noch gedacht, dass ich praktisch tätig werden würde. Aber bereits dann gab es diesen und jenen Fall, wo ich feststellen musste: Das geltende Recht entspricht den ethischen und politischen Gerechtigkeitsgedanken nur bedingt. Trotzdem muss es so angewandt werden, wie es gilt, ohne dass gross hinterfragt wird, ob und wie man das Recht auch ändern kann oder sollte. Die Wissenschaft hingegen erlaubt, ja ermutigt gerade den kritischen Blick.
In Ihrer Forschungsarbeit stellen Sie unter anderem fest, dass das Tierrecht, festgelegt im schweizerischen Tierschutzgesetz, vor allem im Vergleich mit Menschenrecht «fragil» ist. Können Sie das erläutern? Und warum ist das so?
Das Tierrecht ist ein relativ neuer Forschungsbereich, der gelegentlich belächelt wird. Es können Reaktionen kommen wie: Haben wir eigentlich keine anderen Probleme, als uns um Tiere zu kümmern? Dabei gibt es in theoretischer Sicht viel aufzuarbeiten. Anders als wir haben Tiere nämlich keine Grundrechte, die ihre wichtigsten Interessen beständig und effektiv schützen. Tierrechte gibt es in unserer Rechtsordnung also nicht. Was wir in der Schweiz für die Tiere haben, ist maximal ein Tierschutzrecht, obwohl auch dieser Begriff fragwürdig ist.
Inwiefern?
Ein Blick in das Tierschutzrecht verleitet zu dieser Annahme – keine Frage. Schauen wir uns das etwas genauer an: Im Tierschutzgesetz steht zum Beispiel, dass die Würde und das Wohlergehen des Tieres zu schützen ist. Das hört sich erst einmal gut an. Man muss aber immer genau hinschauen. Die Tierwürde wird nämlich relativ verstanden. Denn es steht weiter im Tierschutzgesetz, dass die Tierwürde dann geschützt wird, wenn nicht «überwiegende Interessen einen Eingriff rechtfertigen». Ähnlich wird das tierliche Wohlergehen relativiert. Das ist nur sicherzustellen, «soweit es der Verwendungszweck zulässt». Solche Klauseln stellen sicher, dass unsere ökonomischen Interessen systematisch und strukturell über den Interessen der Tiere stehen. Weiter werden die grundlegendsten Interessen von Tieren, wie etwa das Interesse am Leben und körperliche Unversehrtheit, nicht geschützt. Deshalb sprechen Expertinnen und Experten hier eher von einem «Tiernutzungsgesetz» als von einem «Tierschutzgesetz».
Was halten Sie überhaupt von der rechtlichen Unterscheidung zwischen Mensch und Tier? Eigentlich ist diese ja ziemlich künstlich, denn der Mensch ist ja biologisch gesehen auch ein Säugetier.
Biologisch gesehen sind wir tatsächlich auch Tiere, nämlich sogenannte Trockennasenprimaten – ob wir dies wahrhaben wollen oder nicht. Schimpansen etwa sind uns genetisch näher als den Gorillas. Das sollte uns zum Nachdenken bringen. Wir haben zwar eine grosse Machtposition auf diesem Planeten, sind aber trotzdem nur Teil eines grossen Puzzles. Derzeit entscheiden wir Menschen aber allein, welche Interessen von welchen Tieren zu schützen sind, und zwar zu dem Grad, wie wir es für nützlich halten. Dieser Fokus auf uns alleine, auch bekannt als «Anthropozentrismus», ist mithin ein Grund, warum viele Dinge auf der Welt schieflaufen.
Wie müsste denn ein Tierrecht aussehen, das weniger voreingenommen und dafür gerechter wäre?
Das ist eine unglaublich wichtige und komplexe Frage, denn bisher haben wir Menschen uns vornehmlich Gedanken darüber gemacht, wie uns das Recht helfen kann, andere Tiere auszunutzen und uns dabei trotzdem gut zu fühlen. Wie aber schützen wir Tiere effektiv? Wie werden wir ihren unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht? Ein wichtiger erster Schritt wäre, sie erst einmal nicht zu beeinträchtigen, etwa indem wir ihren Lebensraum respektieren, sie nicht mehr einsperren oder ihr Leben auslöschen. Gerade Grundrechte wären hier notwendig, um Tieren solche individuellen Rechtspositionen zu sichern, die auch individuell einklagbar sind.
Würde ein gerecht ausgestaltetes Tierrecht für uns Menschen Einschränkungen bringen oder würde das gar in unserem eigenen Interesse liegen?
Kurzfristig müssten wir auf einige Dinge verzichten, aber langfristig würde damit unser eigenes Wohlergehen und letztlich auch unser Überleben gesichert. Denn die Wissenschaft ist sich einig, dass sich unser Umgang mit den Tieren grundlegend ändern muss, auch um unser selbst willen. Gerade die Corona- und Klimakrisen zeigen: Unser Umgang mit den Tieren hat einen grossen Einfluss auf unsere Zukunftsfähigkeit – eben in beide Richtungen.
Zur Person
lue. Charlotte Blattner ist Rechtswissenschaftlerin, spezialisiert auf Tier-, Klima- und Umweltrecht. Aufgewachsen ist sie in Sissach, wo sie aktuell lebt. Sie bezeichnet sich als «fest mit der Region verwurzelt» und pendelt für ihre Arbeit nach Bern, wo sie an der Universität forscht und unterrichtet. Auch an der Universität Basel, wo Blattner ihr Rechtswissenschaftsstudium abgeschlossen hat, ist sie als Lehrbeauftragte tätig. Privat ist sie viel in der Natur unterwegs. «Ich liebe die Landschaft von Sissach; sie gibt mir Kraft. Ich fühle mich hier zu Hause. Deswegen bin ich auch zurückgekommen», erzählt sie. Denn Blattner verschlug es nach dem Studium in Basel für mehrere Jahre in die USA und nach Kanada. Sie hat einen beeindruckenden Lebenslauf, mit Stationen auch an der Harvard University in Boston. Zudem erhielt sie etliche Preise für ihre Doktorarbeit.