«Der Care-Gedanke ist eine Chance»
26.11.2021 Baselbiet, Maisprach, Gelterkinden, Bezirk Sissach
Clara Willers
Frau Thommen, Ihr neuer Film «Les Nouvelles Èves – Heldinnen des Alltags» fand beim Premierenpublikum in Basel grossen Anklang. Am nächsten Montag präsentieren Sie den Film in Gelterkinden. Warum ist es für Filmemacherinnen ...
Clara Willers
Frau Thommen, Ihr neuer Film «Les Nouvelles Èves – Heldinnen des Alltags» fand beim Premierenpublikum in Basel grossen Anklang. Am nächsten Montag präsentieren Sie den Film in Gelterkinden. Warum ist es für Filmemacherinnen wichtig, an Filmpremieren präsent zu sein?
Anna Thommen: Sobald man einen Film einem Publikum präsentiert, verselbstständigt er sich. Live vor Ort beginnt ein Film mit dem Publikum zu kommunizieren. Bei gewissen Szenen ist die Überraschung für mich manchmal gross, weil ich als Filmemacherin gewisse Reaktionen vom Publikum nicht erwartet hätte.
Bei der anschliessenden Diskussion zum Film in Basel haben Sie den Kinoabend als «kollektives Erlebnis» bezeichnet. Könnten Sie das erläutern?
Im Kino sitzen wir mit fremden Menschen in einem dunkeln Raum und durchleben gemeinsam Emotionen. Die Stimmung der Einzelnen potenziert sich und es wird zu einem Erlebnis, das verbindet und im Nachhinein länger Spuren hinterlässt, als dies bei einem «Video on Demand» allein auf dem Sofa zu Hause der Fall ist.
Sie zeigen Alltägliches von sechs Frauen, beispielsweise von einer pensionierten Pflegerin im Tessin, die mit ihrer Freundin das Monatsbudget durchgeht und merkt, dass sie an jedem Monatsende pleite ist. Warum haben diese Porträts etwas mit dem Thema Gleichberechtigung zu tun?
Wir sechs Filmemacherinnen haben Frauen in ihrem Alltag porträtiert und den kleinen alltäglichen Dingen Aufmerksamkeit geschenkt, da es oft genau diese sind, die in unserer Gesellschaft stark wirken und verhindern, dass wir die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau erreichen.
Was haben diese alltäglichen Dinge gemeinsam?
Es geht stark um den «Care»-Gedanken, den viele Frauen in sich tragen: sich um andere kümmern. Diese systemrelevante Care-Arbeit wird jedoch nicht bezahlt und gewertschätzt. Solange Frauen mehr unbezahlte Care-Arbeit leisten als Männer, wird die Gleichberechtigung nicht vorangetrieben.
Alle Protagonistinnen versuchen auf ihre Art, eine Balance zwischen den eigenen Bedürfnissen, der Care-Arbeit sowie der bezahlten Arbeit zu finden. Inwiefern ist der Care-Gedanke unter Frauen besonders wichtig?
Der Care-Gedanke ist eine Chance und ich bin unbedingt dafür, dass sich Frauen gegenseitig unterstützen und aufbauen sollten. Diese Kraft möchte der Film spürbar machen. So unterschiedlich die Frauen im Film in ihren Lebenswelten sind, etwas teilen sie: Sie allen wollen innerlich frei von Zwängen sein und wehren sich dagegen, von aussen schubladisiert oder diktiert zu werden.
Es kommt im Film keine Erzählfigur vor, welche die einzelnen Frauen und deren Leben kommentiert. Warum war dies nicht nötig?
Durch das Verweben der verschiedenen Frauenbilder im Film treten sie in einen fiktiven Dialog zueinander. Am Schluss entsteht ein Ensemble, auch wenn sie in der Realität nichts miteinander zu tun haben.
Wie kam die Auswahl auf genau diese Protagonistinnen?
Die Frauen, die am Frauenstreik 2019 Forderungen gestellt haben, waren unglaublich vielfältig und kommen aus unterschiedlichsten Lebenswelten. Diese Vielfalt wollten wir im Film abbilden. Jede Regisseurin hat dann eine Frau vorgeschlagen, die sie porträtieren möchte.
Bei der Vorführung in Basel war Ihre Protagonistin Naima Cuica zugegen. Wie haben Sie sie kennengelernt?
Judith Lichtneckert, die Produzentin des Films, rief mich Anfang 2019 an mit der Idee eines Frauenregiekollektivs für «Les Nouvelles Èves». Meine Protagonistin Naima Cuica habe ich am 14. Juni 2019 am Frauenstreik in Basel kennengelernt, wo sie mit einer Kollegin Flyer für die Frauenstreikparty am Abend verteilte. Naimas Fokus war es damals, Migrantinnen, aber auch Migranten, in den Streik mit einzubeziehen.
Warum war Naima für Sie ein Glücksfall?
Ihre Geschichte und ihre Art haben mich gepackt. Ich filmte ihre Entwicklung, wie sie sich aus dem Billiglohnsektor befreit und eine Ausbildung beginnt, denn ihr Marketing-Diplom aus Venezuela wurde in der Schweiz leider nicht anerkannt. «Les Nouvelles Èves – Heldinnen des Alltags» ist erst der Beginn, nun filme ich sie weiter, bis sie endlich knapp vor ihrem 50. Geburtstag ein in der Schweiz anerkanntes Diplom in den Händen halten darf. Sie sehen, ich bin schon voll drin im nächsten Film.
«Les Nouvelles Èves»
cw. Ausschlag für den kollektiven Dokumentarfilm «Les Nouvelles Èves» gab der Frauenstreik vom 14. Juni 2019. Die Produzentinnen Judith Lichtneckert und Liliane Ott kontaktierten daraufhin die Filmemacherinnen Anna Thommen, Thaïs Odermatt, Wendy Pillonel, Camille Budin, Annie Gisler und Jela Hasler. Im Zentrum steht die Frage, warum es heute immer noch keine Gleichberechtigung von Frauen und Männern gibt.
Im Dokumentarfilm werden sechs in der Schweiz lebende Frauen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Herkunft porträtiert. Trotz der stereotypen Frauenbilder, denen Naima, Délphine, Cosima, Sela, Sophie und Valeria in ihrem Alltag begegnen, versuchen alle mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, einen eigenen Weg zu gehen.
Es gelingt den Filmemacherinnen, dieses «Auf-dem-Weg-Sein» poetisch auszudrücken. Während die pensionierte Valeria auf den steilen Tessiner Strassen in ihrem Fiat zu Pflegebedürftigen fährt, geht das Berner Mädchen Cosima mutig auf Jungs zu, die ihr nicht erlauben, einen Cowboy zu spielen. Pendelt die Professorin Sophie auf dem Genfersee zwischen Familie und Beruf, fährt die Migrantin Naima so oft zum RAV und anderen Beratungsstellen, bis sie einen Lehrvertrag in der Hand hält. Radelt die Genfer Studentin Délphine den Gefahren zum Trotz spät nachts allein nach Hause, begibt sich die Opernsängerin Sela auf die Suche nach einer Frauenrolle, mit der sie sich identifizieren kann. Trotz Widrigkeiten und Rückschlägen gibt keine der Frauen den Wunsch nach finanzieller Unabhängigkeit und persönlicher Freiheit auf.
«Les Nouvelles Èves», Montag, 29. November, 20.15 Uhr, Kino Marabu au Garage Singeisen, Rössligasse 13, Gelterkinden