Erdverbundene Grenzgängerin
19.11.2021 Baselbiet, Kultur, Bezirk Liestal, Bezirk Sissach, SissachAndrea Masek
«D’Ärdgeiss» wohnt unter der Erde, bei der Mutter der Erde. Als sie krank wird, können ihr nur die Wurzelkinder helfen: Das neuste Stück von Margrit Gysin ist wieder tief in der Erde verwurzelt.
Wir treffen die Grande Dame des Figurenspiels im ...
Andrea Masek
«D’Ärdgeiss» wohnt unter der Erde, bei der Mutter der Erde. Als sie krank wird, können ihr nur die Wurzelkinder helfen: Das neuste Stück von Margrit Gysin ist wieder tief in der Erde verwurzelt.
Wir treffen die Grande Dame des Figurenspiels im Garten an, barfuss, die Hände voller Erde. Ein schönes Bild. Ein Bild, das passt. Auch, weil sie selber mit ihrer Kunst Bilder schafft: «Bilder sind am Anfang jedes Stücks. Daraus entwickelt sich eine Geschichte.»
Gysin hat eine einnehmende Präsenz, nicht nur auf der Bühne. Sie zeigt sich schon lange beim Spielen, «damit die Kinder sehen, wie das funktioniert und dass jeder das kann». Auch an diesem Nachmittag in Liestal in ihrem von Licht durchfluteten Wohn-Essbereich ist die 72-Jährige lebensnah und lebensfroh. Figurenspieler hätten eine gesunde Psyche, sagt sie. Sie kann nicht ruhig sitzen, gebannt aber hört man zu, wenn sie über ihr Leben und ihren Beruf erzählt.
Eigene Wege gegangen
Sie sei kein zielgerichteter Mensch, sagt sie. Irgendwie hat sich bei ihr alles einfach ergeben. Bis zur Matur machte Gysin, was ihre Eltern von ihr erwarteten. «Ich war zwar ein eigenwilliges und freiheitsliebendes Kind, aber damals rebellierte man nicht wirklich.» Doch anstatt Medizin zu studieren, wie es sich ihre Mutter wünschte, ging sie nach Paris und absolvierte die Theaterschule von Jacques Lecoq. Warum? Das kann sie auch heute nicht begründen. Die Theaterwelt hat sie aber bereits mit vier Jahren gepackt: Sie schlich sich in eine Aufführung von Adalbert Klingler und war beeindruckt, wie mucksmäuschenstill das Publikum war.
«Meine Lehrmeister gaben mir gute Aufgaben und Tipps. Ich lernte, mit Material zu schaffen.» Und mit einem Augenzwinkern meint sie, in Paris sei etwas abgegangen, es seien ja die 68er gewesen. Die junge Frau aus dem kleinen Waldenburg genoss die Zeit in der Weltstadt. Auch heute würde sie sofort in eine «richtige» Grossstadt ziehen, nach New York oder Neu Delhi: «Das Leben dort ist so gigantisch anders.»
Gereist ist Gysin beruflich sehr viel. Sie spielte und spielt in der ganzen Welt, wird immer wieder an Festivals eingeladen, hat viele Preise gewonnen, unter anderem den Schweizer Theaterpreis. «Ich musste nie Werbung machen», schätzt sie sich glücklich. Doch nicht umsonst wird sie «Pionierin des Figurenspiels» genannt.
Seit 35 Jahren arbeitet sie von Liestal aus. Hier hat sie sich ein gemütliches Heim geschaffen und lebt Tür an Tür mit der Familie ihrer Tochter. Im Gespräch kommt sie immer wieder auf ihre beiden Kinder – die sie oft auf Reisen mitnahm – und ihre drei Enkelkinder zu sprechen. «Kinder faszinieren mich bis heute total. Ich arbeite furchtbar gern mit ihnen.»
Aus Paris zurück, liess sich Gysin zur Kindergärtnerin ausbilden. Damit hörte sie auch auf ihre Mutter, die ihr eingeschärft hatte, dass eine Frau auf eigenen Beinen stehen müsse. Es folgte die Weiterbildung zur Heilpädagogin, um unter anderem Kinder mit Beeinträchtigungen noch besser zu verstehen. Es brauche viel Geduld und Hingabe, sagt sie – was sie auch in ihren Aufführungen zeigt. Sie strahlt, wenn sie von den Reaktionen und Emotionen der Kinder erzählt und wie sie darauf eingeht.
Ab 1976 konzentrierte sie sich auf das Figurenspiel. «Ich fand es spannend, Menschen in eine andere Welt zu bringen. Wie in einem Roman.» Von klein auf las Gysin viel – und lässt sich bis heute von der Literatur inspirieren. Am meisten Inspiration holt sie sich aber aus der Natur. Mit ihren Eltern verbrachte sie viel Zeit im Freien. Waldspaziergänge gehören bei ihr – wenn es der Spielplan zulässt – zur täglichen Routine. Wie das Schwimmen. Anfangs spielte sie mit Material der Natur, mit Erde, Holz, Feuer. Mit der Zeit wurden Figuren daraus. Inspiration holt sich Gysin zudem aus der Kunst: «Als Kind konnte ich stundenlang die Kunstkataloge meines Vaters anschauen.»
Die Themen ihrer Stücke gehen mit der Zeit. Doch das Thema Erde zieht sich wie ein roter Faden durch die 50 Jahre. Sie hinterfragt immer wieder, was wir mit der Welt machen. «Ich möchte, dass die Kinder eine Beziehung zur Natur bekommen, damit sie Sorge zu ihr geben.» Stets geht Gysin auf die Lebenswelt der Kinder ein. «Tiere, Abenteuer und das Wunderbare muss rein, das interessiert sie.» Sie selber erlebt jeden Tag Wunderbares: die Farbe einer Blume, Nebelschwaden, den Sonnenuntergang. Sie meint, man könne sich nicht genug an kleinen Sachen freuen.
Gysin ist wissbegierig und «offen für Neues». Ihr Sonnenenergiehaus baute sie, weil sie diese damals revolutionäre Technik «einfach wahnsinnig interessiert hat». Sie akzeptierte ein Projekt mit SRF, weil sie wissen wollte, wie Fernsehen funktioniert. «Ich bin grenzgängerisch», sagt sie, «ich probiere Dinge einfach aus und denke nie: ‹Kann ich das?›» Auch ihre Figuren sind «Macher», geben nicht schnell auf. Ihren Enkelkindern brachte sie dies anhand des Strickens näher: «Es geht langsam, aber einmal wird es fertig. Es ist schön, dranzubleiben.» Zudem lernt sie beim Stricken ihren Text auswendig, kann den Vögeln oder der Sonne zusehen.
Gysin kann sich total in etwas verlieren und vergisst darob oft die Zeit – wie ein Kind. «Ich arbeite eben sehr gern, ob im Haushalt, im Garten, im Theater.» Auch das Unterrichten beflügelt sie und ihr Spiel. Seit Jahrzehnten gibt Gysin ihre Erfahrungen an die Jugend weiter und seit mehreren Jahren mit der «Weiterbildung Figurentheater» auch an Erwachsene. Sie staunt immer wieder, wie gross das Interesse ist. Und ihr Publikum staunt in ihren Aufführungen etwa über den Inhalt von Schubladen, oder wenn die «Ärdgeiss» aus Heu einen goldenen Faden macht, mit dem die Welt geflickt wird …
«D’Ärdgeiss»
am. Die Premiere ihres neusten Stücks «D‘Ärdgeiss» feiert Margrit Gysin im «Cheesmeyer» in Sissach an diesem Sonntag, 21. November, um 11 und 15 Uhr («Bühne im Dach»).
Die «Ärdgeiss» wohnt unter der Erde bei der Mutter der Erde. Sie gibt Milch, macht Zauberfäden und spielt mit den Wurzelkindern. Als sie krank wird, ist die Welt in Gefahr und nur die Kinder können helfen. Ein hoffnungsvolles Spiel mit Humor, Musik und viel zum Staunen für Kinder ab 4 Jahren und ihre erwachsene Begleitung. Die Theaterkasse öffnet jeweils 30 Minuten vor Spielbeginn.