Zeitdokument und Mutmacher
27.07.2021 Gesellschaft, Rothenfluh, KulturJürg Gohl*
«Aus 2 Stunden wurden 22 Tage», sagt Thomas Rümmele. Mit dem Motorrad ist der 48-jährige Reinacher vom Unter- ins Oberbaselbiet gebrummt, um der Vernissage des Buchs «Ein Jahr Corona im Baselbiet – Schicksale hinter den Zahlen» in der ...
Jürg Gohl*
«Aus 2 Stunden wurden 22 Tage», sagt Thomas Rümmele. Mit dem Motorrad ist der 48-jährige Reinacher vom Unter- ins Oberbaselbiet gebrummt, um der Vernissage des Buchs «Ein Jahr Corona im Baselbiet – Schicksale hinter den Zahlen» in der «Sagi» Rothenfluh beizuwohnen. Es sind zehn Schicksale, die irgendwie im Zusammenhang mit Corona stehen und von fünf verschiedenen Autorinnen aus dem Oberbaselbiet zu Papier gebracht wurden.
Zur Feder griffen die Gelterkinderin Karin Viscardi, die gemeinsam mit Remo Schraner das Buchprojekt leitete, sowie «Volksstimme»- Mitarbeiterin Irène Böhm aus Rünenberg, Susanne Kohli aus Rickenbach, Barbara Paulsen Gysin aus Hemmiken und Margrit Mathys aus Gelterkinden. Jetzt liegt das gut 150 Seiten umfassende Werk, ein Zeitdokument zur Pandemie, vor.
Betroffene erzählen
Die fünf Schreiberinnen nahmen am vergangenen Donnerstag in Rothenfluh die ersten Exemplare in Empfang. Ebenso die porträtierten Personen, die bei dieser Gelegenheit ihr jeweiliges Corona-Schicksal für die Runde nochmals kurz zusammenfassten. Thomas Rümmele, einer der ersten Covid-Patienten im Kanton überhaupt, schilderte dabei – wie im Buch – seine spezielle Covid-Erfahrung gleich an erster Stelle.
Sein verhängnisvoller Besuch der Unterbaselbieter Herrenfasnacht 2020, die ersten Symptome, der Gang ins Spital und das vermeintlich kurze Abtauchen ins künstliche Koma. Er sei nun für zwei Stunden «offline», schrieb er seiner Frau Fabienne noch, die damals nicht ahnen konnte, dass ihr drei Wochen des Bangens unmittelbar bevorstanden. Aus den 2 Stunden wurden 22 Tage und ein enger Kampf ums Überleben sowie hinterher das langwierige Wiedererlernen des Alltäglichen, wie zum Beispiel das Gehen. Abgesehen davon, dass er sich abends oft eine Ruhestunde gönnen muss, leidet er an keinen Folgen mehr.
Nicht alle Geschichten führen zu einem solch glücklichen Ende. So schildert eine Familie im Buch, wie die 88-jährige Mutter in Disentis an Covid erkrankte, innerhalb von fünf Tagen starb und die Angehörigen am Telefon von der Erkrankten für immer Abschied nehmen mussten. Ein befreundetes Paar – sie wurde wegen der Pandemie depressiv, er nahm es eher locker – schildert, wie er sie in einem intensiven Briefwechsel durch diese graue Zeit getragen hat. «Corona schrieb eben auch positive Geschichten», sagt er.
Zement statt Suppe anrühren
Eine Krankenschwester beschreibt die zusätzliche Belastung im Beruf, kann Covid aber auch positive Seiten für ihren Berufsstand abgewinnen. Das «Sagi»-Wirtepaar, Gastgeber der Vernissage, erzählt, wie es die Krise wirtschaftlich meisterte: Damit er keine Stellen abbauen musste, half der Wirt auf einer Baustelle aus. «Insgesamt buckelte er 3,5 Tonnen Zement», sagt Wirtin Stefanie Cairoli.
Zu Wort kommt im Buch auch eine Gelterkinder Schulleiterin, die durch die neuen Auflagen ge- bis überfordert wurde und das offen und rührend schildert. Taylor Eichhorst, ein Crossfit-Trainer aus Kalifornien, der einst als Baselball-Trainer für ein Jahr nach Sissach kam und wegen der Liebe im Oberbaselbiet sesshaft wurde, lässt die Leser über seine Autorin Susanne Kohli wissen, wie sehr er mit seinem im November 2019 erfolgreich eröffneten Center plötzlich vor dem Nichts stand und zum Improvisieren gezwungen war.
Eine an Kinderlähmung erkrankte Frau spricht ergreifend von ihren Panikattacken, der Isolation und der ständigen Angst, sich anzustecken. «Covid wäre mein Todesurteil», sagt sie, «weil meine Lunge bereits sehr geschwächt ist und ich mich wegen meiner Grunderkrankung nicht impfen lassen darf. Heute wage ich mich erstmals seit dem Ausbruch von Corona wieder unter Leute.» Und, und, und.
Lesungen vorgesehen
Nicht alle einst angekündigten Kapitel konnten auch niedergeschrieben werden, weil ein paar Betroffene ihr Schicksal letztlich doch nicht publik machen wollten. Da Karin Viscardi und Remo Schraner, die beide in Gelterkinden wohnen und das Projekt ersannen, ihren ehrenamtlichen Schreiberinnen keine formellen Kriterien mitgaben, ist das Buch nicht nur inhaltlich, sondern auch von der Schreibform vielfältig geraten. Oft begaben sich die Autorinnen in die Rolle der Protokollantin.
Überrascht von sehr positiven ersten Reaktionen auf das Buch besprach die «Schreibgruppe Lebensgeschichte» am Ende der eigentlichen Vernissage auch noch die Idee, ihr berührendes Werk in öffentlichen Lesungen vorzustellen.
Noch an Ort und Stelle bot ihnen der Rünenberger Künstler Christian Gusewski seine Räumlichkeiten für eine Lesung an. Zuvor hatte er eindrücklich über seine Leiden in Zeiten der Pandemie gesprochen, die bereits im Buch in Interview-Form wiedergegeben sind. Doch diese dunkle Phase inspirierte ihn auch zu einer neuen Ausdrucksform: Er entdeckte die Asche zum Malen. Auch hier zeigen sich die hässlichen und positiven Folgen der Pandemie in einem einzigen Schicksal.
«Schicksale hinter den Zahlen – ein Jahr Corona im Baselbiet»; Schreibgruppe Lebensgeschichten, 155 Seiten. Zu beziehen unter: www.schreibgruppelebensgeschichten.ch/shop
* Der Autor hat das Vor- und das Nachwort zum Buch beigetragen.
NACHGEFRAGT|BARBARA PAULSEN GYSIN AUS HEMMIKEN IST EINE DER FÜNF AUTORINNEN
«Ohne lesen und schreiben kann ich nicht leben»
Frau Paulsen, wie wurden Sie überhaupt Buchautorin?
Barbara Paulsen Gysin: Ich studierte Kommunikation und arbeitete ein Leben lang in der Kommunikation. Dabei verspürte ich zunehmend das Bedürfnis, einmal etwas anderes zu verfassen als Gebrauchstexte. Weil ich ein Büchernarr bin und mich nach einer Lesegruppe umschaute, begab ich mich an eine Lesung der Schreibgruppe Lebensgeschichten und landete so bei einer Schreib- statt bei einer Lesegruppe. Andere können ohne Musik nicht existieren. Für mich hingegen ist es unvorstellbar, auf Bücher und Zeitungen verzichten zu müssen. Ich kann nicht leben, ohne zu lesen und zu schreiben.
Nun ist Ihr erster Text publiziert. Wie haben Sie den ganzen Schreibprozess erlebt?
Nie befiel mich das Gefühl festzustecken. Das hängt auch stark mit den porträtierten Leuten zusammen, in meinem Fall mit dem Wirtepaar Stefanie Cairoli und David Simon. Sie erzählten offen viel Interessantes und machten es mir damit leicht, über sie zu schreiben.
Wie entschieden Sie, in welcher Form Sie das alles niederschreiben?
Das war eine Herausforderung. Karin Viscardi und Remo Schraner liessen uns bewusst vollkommen freie Hand. Soll ich in der Ich-Form schreiben? Ich entschied mich dagegen, weil das Paar ja im Mittelpunkt stand. Gegenwart oder Vergangenheit? Wie soll der Text aufgebaut sein? Chronologisch? All das musste ich mit mir selber ausmachen.
Ist Ihre Lust aufs Schreiben mit dem Erscheinen aufs Erste gestillt?
Nein. Es muss ja nicht alles um jeden Preis publiziert sein, und ich mache es natürlich auch vom Thema abhängig. Dieses muss mir liegen. Auf jeden Fall möchte ich weiterhin beim Projekt Schreibgruppe Lebensgeschichten, aus dem dieses Corona-Buch hervorgegangen ist, mitwirken. Die Lust am Schreiben wird mir nicht abhanden kommen.
Interview jg.