Schutz und Erziehung statt Strafe
06.07.2021 Baselbiet, Justiz, PorträtAndreas Bitterlin
Frau Matzinger, worauf führen Sie die Zunahme der Straffälle bei 10- bis 18-Jährigen zurück?
Corina Matzinger: Die Zunahme hat schon vor einigen Jahren begonnen. Was auffällt, ist, dass viele Kinder und Jugendliche ...
Andreas Bitterlin
Frau Matzinger, worauf führen Sie die Zunahme der Straffälle bei 10- bis 18-Jährigen zurück?
Corina Matzinger: Die Zunahme hat schon vor einigen Jahren begonnen. Was auffällt, ist, dass viele Kinder und Jugendliche Mehrfachbelastungen ausgesetzt sind. Aber aussagekräftige Umfragen zu den Ursachen der Zunahme im Kanton Baselland liegen uns nicht vor.
Stellen Sie fest, dass Corona die Situation verschärft?
Pandemiebedingte Einschränkungen verstärkten die psychischen Probleme und Belastungen. Hilfs- und Unterstützungsangebote, Ferienjobs, Sportanlässe und -gelegenheiten fielen weg. Arbeitslosigkeit droht. Zudem entstanden in vielen Familien finanzielle Schwierigkeiten. Homeoffice kann zwischenmenschliche Spannungen auslösen.
Wie erklären Sie sich den Zusammenhang mit der Zunahme von Delikten?
Durch den Wegfall von Sportangeboten und Gewohnheiten fehlte ein wichtiges Ventil. Gewisse Jugendliche reagierten mit Grenzüberschreitungen in Form von Gewalt oder vermehrtem Substanzkonsum.
Zu Letzterem: Handelt es sich primär um leichte Drogen wie Marihuana oder harte wie Heroin?
War es 2015 noch primär Marihuana, ist heute oft ein Mischkonsum feststellbar: neben Marihuana auch Benzodiazepine, Kokain und opiathaltige Medikamente, kaum Heroin. Es fällt auf, dass oft verschiedene Stoffe gleichzeitig eingenommen werden, häufig mit Alkohol. Sorgen bereitet uns mit künstlichem THC behandelter CBD-Hanf. Künstlich erzeugtes THC ist sehr konzentriert, oft mit anderen Chemikalien kontaminiert und allgemein sehr gesundheitsgefährdend und in der Wirkung unberechenbar.
Wie gehen Sie bei Cannabis-Konsum mit jugendlichen Beschuldigten um?
Bei Anzeigen, zum Beispiel wegen Kiffens, müssen wir aktiv werden, da es sich um ein Offizialdelikt handelt. Bei Kindern und Jugendlichen steht der Schutzgedanke im Vordergrund, das heisst, wir reagieren nicht mit Strafen, sondern mit Prävention. Es erfolgt eine individuelle Abklärung durch den hauseigenen Sozialbereich, um rechtzeitig festzustellen, ob eine Suchtproblematik vorliegt, also ob die Person täglich konsumiert, die Lehrstelle verloren hat, das Bett nicht mehr verlässt, in der Schule Probleme hat. Alle diese Abklärungen geschehen unter dem Aspekt, festzustellen, ob dieses Kind oder dieser Jugendliche Hilfe und Unterstützung benötigt. Wenn ja, leiten wir entsprechende Massnahmen ein.
Was steht Ihnen hierbei zur Verfügung?
Wir von der Jugendanwaltschaft bieten Präventionskurse sowie Einzelgespräche an. Aufgrund der spezifischen Bedürfnisse der Suchtbetroffenen können wir jederzeit geeignete Fachorganisationen und -institutionen für weitere individuelle Massnahmen beiziehen. Liegt keine Suchtproblematik vor, wird Erwachsenen eine Busse von 100 Franken auferlegt. Jugendliche erhalten einen Verweis. Das entspricht einer Gelben Karte, einer Verwarnung.
Gibt es neue spezifische Probleme beim Drogenkonsum von Kindern und Jugendlichen?
Ja. Wir betrachten mit grosser Sorge, dass immer Jüngere zu Drogen greifen und die Medikamentenkästen ihrer Eltern leerräumen.
Markant zugenommen hat auch die Gewalt − mit einer Steigerung von 62,2 Prozent im Vergleich zu 2017. Um welche Delikte handelt es sich?
Die Jugendanwaltschaft Basel-Landschaft erfasst unter dem Begriff Gewaltdelikte die Anwendung oder Androhung von Gewalt gegen Personen: Angriff, Raub, Tätlichkeiten, einfache Körperverletzung, schwere Körperverletzung und so weiter. Bei einfacher Körperverletzung sind die Taten nicht lebensgefährlich und sie bewirken keine bleibenden Schäden. Ein Nasenbein- oder ein Armbruch stellt juristisch, und nur juristisch, eine einfache Körperverletzung dar. Eine schwere Körperverletzung ist lebensgefährlich oder beeinträchtigt das Opfer bleibend. Nicht berücksichtigt wird Gewalt gegen Sachen und Sexualdelikte. Diese werden separat erfasst.
Wie gehen Sie bei Gewaltdelikten mit Verletzungsfolgen vor?
Wir lassen die verletzte Person medizinisch untersuchen und verlangen ein Gutachten über die Art und Schwere der Verletzung und die zu erwartenden Folgen. Bei einfachen Fällen wie blaue Flecken oder blutende Wunden genügt ein Bericht des Hausarztes. Aber bei gravierenderen Verletzungen können wir auch die Gerichtsmedizin einbeziehen. Aufgrund dessen wird das weitere Vorgehen bestimmt.
Führt eine schwere Körperverletzung zwangsläufig zu einer Gefängnisstrafe?
Nein, es existiert kein Automatismus. Das Gesetz sieht zwei Kategorien der jungen Menschen vor, für die wir zuständig sind. Es sind dies Kinder von 10 bis 15 Jahren und Jugendliche von 15 bis 18 Jahren. Für Kinder zwischen 10 und 15 Jahren gibt es keine Gefängnisstrafe, diese Sanktion können wir nur für Über-15-Jährige aussprechen. Bei derartigen Delikten steht jedoch als Sanktion oft eine Kombination von Strafen und Massnahmen in Vordergrund.
Was geschieht mit einem zwölfjährigen Kind, das jemanden schwer verletzt?
Zuerst können wir Untersuchungshaft oder eine stationäre Beobachtung anordnen, bis alle Fakten geklärt sind. Gleichzeitig setze ich unser Team des Sozialdienstes ein, um die Frage zu klären, was dieser junge Mensch benötigt, damit er nie mehr ein derartiges Delikt begeht und damit er somit keine Gefahr mehr für andere Menschen darstellt. Bei einer derart schweren Tat lasse ich in der Regel auch ein jugendpsychiatrisches Gutachten erstellen. Nach dem Grundsatz des Jugendstrafrechts ist den persönlichen Lebens- und Familienverhältnissen des Jugendlichen sowie der Entwicklung seiner Persönlichkeit besondere Beachtung zu schenken.
Und danach legen Sie die Strafe fest?
Im Jugendstrafgesetz steht nicht Strafe, Sühne oder Verschulden im Vordergrund. Als Grundsätze werden zwei andere Begriffe aufgeführt: Schutz und Erziehung. Die Tat ist für uns zwar Ausgangspunkt, aber entscheidend ist das Vorausschauen. Wir müssen fragen, welche Zukunft dieser junge Mensch hat und welche Erziehungsmassnahme wir anordnen müssen. Wir müssen so zwingend auch potenzielle Opfer schützen.
Das Gesetz sieht verschiedene Sanktionen für junge Menschen und Erwachsene vor. Wo liegen beim Einleiten des Verfahrens, bei der Faktenaufnahme die Unterschiede?
Bei einer Festnahme müssen immer die Eltern informiert werden. Dies geschieht entweder durch die Polizei oder durch uns. Bei den Jugendlichen nimmt beim Verfahren also eine weitere Partei teil. Zusätzlich dürfen die Kinder und Jugendlichen noch eine Vertrauensperson beiziehen. Das kann beispielsweise der Lehrmeister, die Lehrperson oder der Götti sein. Bei den Eltern wird differenziert: Bei den 10- bis 15-Jährigen nehmen die Eltern alle Rechte für die Kinder wahr. Die 15- bis 18-Jährigen können die Rechte selbst wahrnehmen und zum Beispiel Rechtsmittel gegen unsere Entscheide einlegen. Die Eltern behalten aber ihre gesetzlichen Rechte.
Besteht bei dieser Regelung nicht Konfliktpotenzial?
Es kann sein, dass der Jugendliche beispielsweise mit der Untersuchungshaft einverstanden ist, weil er die Tat gestanden hat, und die Eltern auf einer sofortigen Haftentlassung beharren. Dies sind zum Teil sehr emotionale Situationen. Ich habe schon erlebt, dass sich eine Mutter aus Verzweiflung Haare ausgerissen und den Kopf gegen den Tisch geschlagen hat.
Inwieweit sind Sie Juristin und inwiefern Psychologin?
Die Kombination ist wichtig, insbesondere bei Jugendlichen, die sich gegen eine Massnahme wehren durch Renitenz oder durch Randalieren. Da ist Zuhören, Erklären und deeskalierend Reagieren sehr wichtig. Um professionell zu handeln, muss ich mein juristisches Handwerk kennen. Beim psychologischen Aspekt hilft mir sicher meine zusätzliche Erfahrung, die ich vor dem juristischen Studium während eines Jahres in der Heimerziehung im Waisenhaus Basel sammeln konnte.
Zur Person
abi. Corina Matzinger (60) ist verheiratet, hat einen Sohn und wohnt mit ihrer Familie im Baselbiet. Nach der Matura absolvierte sie im Bürgerlichen Waisenhaus in Basel ein einjähriges Sozialpraktikum für Heimerziehung, bevor sie an der Universität Basel ihr Studium in Jurisprudenz abschloss. Seit über 34 Jahren ist ihre berufliche «Heimat» das Strafrecht.
Ihre praktische Ausbildung als Juristin und berufliche Tätigkeit als akademische Mitarbeiterin beziehungsweise Untersuchungsbeamtin begann sie in Sissach beim damaligen Statthalteramt. Es folgten verschiedene weitere Stationen beim Strafgericht in Basel, bei der Jugendanwaltschaft Basel-Landschaft und beim Statthalteramt in Liestal. Am 1. März 1989 trat sie die Funktion als ausserordentliche Staatsanwältin an. Drei Jahre später wurde sie 1992 vom Landrat als erste Parteilose und als erste Frau zur ordentlichen Staatsanwältin gewählt. 1996 ernannte der Regierungsrat sie zur Ersten Staatsanwältin. Nach knapp 20 Jahren als Staatsanwältin wechselte sie 2008 zur Jugendanwaltschaft. 2015 wurde sie vom Landrat als Dienststellenleiterin gewählt und hat seither die Leitung der Jugendanwaltschaft inne.