«Gerichts verfahren sind komplexer geworden»
27.07.2021 Bezirk Sissach, Justiz, SissachAndreas Bitterlin
Die Zivilprozessordnung ist zurzeit Thema in den eidgenössischen Räten. Viele Menschen könnten wegen der hohen Kosten ihr Recht nicht vor Gericht durchsetzen, sagt Bundesrätin Keller-Sutter, weshalb die Vorschusszahlungen um die ...
Andreas Bitterlin
Die Zivilprozessordnung ist zurzeit Thema in den eidgenössischen Räten. Viele Menschen könnten wegen der hohen Kosten ihr Recht nicht vor Gericht durchsetzen, sagt Bundesrätin Keller-Sutter, weshalb die Vorschusszahlungen um die Hälfte reduziert werden sollten. Teilen Sie diese Ansicht, Frau Blattner?
Doris Blattner: Ich teile diese Auffassung nicht. Die Vorschusszahlungen waren immer wieder Diskussionsthema, insbesondere im Kanton Zürich, der sich schon bei der Einführung der aktuellen Regelung im Jahr 2011 dagegen wehrte. Für uns hat sich damals nichts geändert. Im Kanton Baselland haben wir schon immer die mutmasslichen gesamten Prozesskosten als Vorschuss von der klagenden Partei einverlangt. Wenn der Vorschuss nun halbiert würde, dann würde sich das Inkassorisiko verschieben, indem das Gericht nach Abschluss des Verfahrens die zweite Hälfte der Kosten einziehen und damit das Inkassorisiko tragen müsste. Das wäre ein Nachteil für uns.
Nennen Sie bitte ein konkretes Beispiel mit der Höhe der Kosten.
D. B.: Ein Kläger reicht eine Forderungsklage in der Höhe von 50 000 Franken ein. Wir verlangen von ihm einen Kostenvorschuss von 10 Prozent, also 5000 Franken. Nach Abschluss des Verfahrens bezahlt die Partei, die den Prozess verloren hat, die Gerichtskosten. Wenn die klagende Partei gewinnt, erhält sie von der anderen Partei die einbezahlten Vorschusskosten zurückvergütet. Das Gericht übernimmt keine Verantwortung bei diesem Zahlungsverkehr. Das Inkassorisiko liegt bei der Partei, die den Prozess gewonnen hat und der Prozessverliererin Rechnung stellt.
Und wenn jemand diese 5000 Franken nicht zur Verfügung hat und überzeugt ist, dass er oder sie die geforderte Summe zugute hat, welche Möglichkeiten hat diese Person, ihr Recht einzufordern?
D. B.: In der Regel erhält die klagende Partei eine erste Verfügung, die zwei Möglichkeiten in Aussicht stellt. Entweder muss sie den Vorschuss bezahlen oder sie kann ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege einreichen. Dann muss sie ihre finanzielle Lage offenlegen und es muss klar ersichtlich sein, dass sie, wie man sagt, «prozessarm» ist. Zusätzlich muss sichergestellt sein, dass ein Prozess nicht aussichtslos ist. Die Beurteilung der fehlenden Aussichtslosigkeit obliegt dem Gericht, denn es darf nicht sein, dass eine Person ohne Geld mit einer aussichtslosen Klage das Gericht beschäftigt.
Wie beurteilt der Ökonom am Zivilkreisgericht diese Diskussion um die Halbierung der Vorschusskosten, Herr Leber?
Martin Leber: Der administrative Aufwand des Gerichts würde bei einer Halbierung des Vorschusses deutlich wachsen, da wir die geschuldete zweite Hälfte der Kosten nach dem Prozess einfordern müssten. Und wir müssten allenfalls dem Kläger, wenn er den Prozess gewinnt, den geleisteten Vorschuss zurückzahlen und den Betrag der Gegenpartei in Rechnung stellen. Und wenn nicht bezahlt wird, tragen wir das Inkassorisiko.
Im Jahr 2014 wurden die sechs Bezirksgerichte umgewandelt in die zwei Zivilkreisgerichte Basel-Landschaft Ost am Standort Sissach und Basel-Landschaft West in Arlesheim. War diese Zentralisation und die damit verbundene Reduktion der Gerichtsstandorte ein weitgehender Abschied vom Prinzip der Bürgernähe?
D. B.: Diese Zentralisation wurde im Rahmen eines kantonalen Sparprogramms vorgenommen. Räumlich hatte die Umorganisation Auswirkungen, indem die Einwohnerinnen und Einwohner der Bezirke Waldenburg und Liestal für Zivilprozesse nun nach Sissach reisen müssen. Aber das erachte ich nicht als Abschied von der Bürgernähe. Die Distanzen im Baselbiet sind nicht gross, und bei den allermeisten Verfahren findet nur eine Verhandlung statt. Entscheidend ist für Personen, die vor Gericht erscheinen müssen, dass sie gehört und verstanden werden.
Herr Leber, Sie sind als Ökonom an den Baselbieter Gerichten tätig. Was sind Ihre Aufgaben?
M. L.: Ich leiste Supportaufgaben im Finanzbereich, im Personalwesen, in der Infrastruktur, die effizienter gestaltet werden mussten. Ich bin unter anderem für die Budgetierung zuständig. Früher erledigte ein Gerichtsschreiber vom Obergericht diese Arbeit nebenbei. Das ist beim heutigen Finanzhaushaltsgesetz nicht mehr möglich, die Aufgaben sind heute komplexer. Nehmen wir weiter die IT als Beispiel: Als ich meine Stelle antrat, gab es beim damaligen Bezirksgericht Sissach/Gelterkinden noch keine Datenbank. Auch diesbezüglich sind die Ansprüche gewachsen. Es sind aussagekräftige Statistiken gefordert, auch von der Politik.
Sie sind seit 2001 Gerichtspräsidentin, Frau Blattner. Sind in dieser Zeitspanne die Anzahl der Gerichtsfälle signifikant gestiegen? Gehen Menschen eher vor Gericht als früher?
D. B.: Nein. Es gibt leichte Schwankungen von Jahr zu Jahr, aber eine Trendwende ist nicht eingetreten.
M. L.: Wenn die Wirtschaft schlecht läuft, nehmen die Arbeitsrechtsstreitigkeiten zu, und die Familienrechtsfälle sind rückläufig. Und bei guter Wirtschaftslage ist das Gegenteil feststellbar.
Früher gab es bei Scheidungsverfahren, sogar bei Konventionalscheidungen, in denen die Parteien sich einig waren, Fünfergerichte. Ist das heute noch so?
D. B.: Nein, Fünfergerichte sind Vergangenheit. Bei Scheidungen mit Streitigkeiten tagt ein Dreiergericht, bei Konventionalscheidungen ohne Streitpunkte entscheide ich allein als Gerichtspräsidentin. Circa 98 Prozent aller Fälle – nicht nur der Scheidungen – werden von mir allein erledigt. Urteile der Dreierkammer machen lediglich etwa 2 Prozent aus.
Welche Themen dominieren insgesamt am Gericht?
D. B.: Zahlenmässig betragen die Verfahren im Schuldbetreibungs- und Konkursrecht rund 45 Prozent der Fälle. An zweiter Stelle stehen die familienrechtlichen Verfahren.
Die Präsidien der Gerichte sind in der Regel mit Personen besetzt, die ein juristisches Studium absolviert haben. Die Richterinnen und Richter sind hingegen oft juristische Laien. Mitglieder der Grünen fordern auch bei Letzteren mehr Professionalität, also ausgebildete Juristinnen und Juristen statt Laien. Wie stehen Sie zu dieser Forderung?
D. B.: Ich habe als Gerichtspräsidentin und auch zuvor als Richterin mit vielen Laienrichterinnen und Laienrichtern zusammengearbeitet. Viele waren sehr engagiert und haben sich mit ihrem Interesse und mit gesundem Menschenverstand sehr positiv in die Entscheidfindung eingebracht und wertvolle Arbeit geleistet. Aber die Entwicklung der Verfahren in den vergangenen Jahren zeigt, dass die Fälle zunehmend komplexer und juristisch anspruchsvoller werden. Da nur ein geringer Anteil an Verfahren mit Dreiergerichten und somit mit Laien geführt werden und die Laien deshalb nur ein- bis zweimal pro Monat im Einsatz sind, ergibt sich, dass heute die Laienrichterinnen und -richter ihr geringeres juristisches Wissen nicht mehr so leicht wie früher mit der Erfahrung wettmachen können. Von daher kann ich den Ruf nach vermehrter Professionalisierung nachvollziehen.
Das Tätigkeitsgebiet der Zivilkreisgerichte Basel-Landschaft
abi. Das Tätigkeitsgebiet der Zivilkreisgerichte Basel-Landschaft West (Standort Arlesheim) und Ost (Standort Sissach) umfasst die erstinstanzliche Rechtsprechung im Privatrecht, insbesondere im Familienrecht (Eheschutz; Scheidung; Kindesrecht), Arbeitsrecht, Mietrecht, Kauf- und Werkvertragsrecht, Haftpflichtrecht, Erbrecht und Nachbarrecht sowie die erstinstanzliche Rechtsprechung im Schuldbetreibungsund Konkursrecht (vorwiegend Rechtsöffnungen und Konkursverfahren).
Rechtsauskunft
Die Zivilkreisgerichte Basel-Landschaft Ost und West bieten in den Gebieten des Privatrechts, des Zivilprozessrechts sowie des Schuldbetreibungs- und Konkursrechts eine unentgeltliche Rechtsauskunft an. Diese ist zeitlich auf circa 10 bis 15 Minuten pro Person und vorwiegend auf Verfahrensfragen beschränkt.
Zu den Personen
abi. Doris Blattner (66) ist in Basel aufgewachsen und lebt seit rund 40 Jahren in Sissach. Sie ist verheiratet und Mutter von vier erwachsenen Kindern. Im Jahr 1994 wurde sie als Richterin am Bezirksgericht Sissach/Gelterkinden gewählt, im Jahr 2001 als dessen Präsidentin. Seit der Zusammenlegung der Bezirksgerichte 2014 ist sie Präsidentin des Zivilkreisgerichts Basel-Landschaft Ost.
Martin Leber (53) lebt seit seiner Kindheit in Sissach. Er ist verheiratet und Vater dreier Kinder. Nach dem Studium an der HSG in St. Gallen arbeitete Martin Leber mehrere Jahre beim VBS in Bern. Seit 2002 ist er Gerichtsverwalter (Generalsekretär der Gerichte) des Kantons Basel-Landschaft. 2008/09 hat er an der Universität Basel berufsbegleitend Verwaltungsrecht studiert und mit einem Master abgeschlossen. Neben Beruf und Familie engagiert sich Leber im Turnsport (Präsident des BLTV, Vizepräsident der Kunstturn-EM 2021), in der Politik (ehem. Gemeinderat) und im Militär (Oberst a. D.).