Auf den Spuren eines Hochstaplers
04.06.2021 Energie/Umwelt, Ziefen, NaturBrigitt Buser
Wem ist er mit seinen vielen Füssen nicht schon bei der Gartenarbeit über den Weg gelaufen? Dies in den meisten Fällen nur, wenn wir den Kompost umschichten, ein Beet bearbeiten oder bepflanzen oder ein Gefäss verschieben. Dann rennt der ...
Brigitt Buser
Wem ist er mit seinen vielen Füssen nicht schon bei der Gartenarbeit über den Weg gelaufen? Dies in den meisten Fällen nur, wenn wir den Kompost umschichten, ein Beet bearbeiten oder bepflanzen oder ein Gefäss verschieben. Dann rennt der lichtscheue Gliederfüsser schnell davon in die Dunkelheit. Wer nun gedacht hat, gemeint sei der Tausendfüsser, der irrt sich. Bei dem Sprinter handelt es sich um Hundertfüsser, die je nach Art bis zu 177 Beinpaare haben. In der Nacht begibt er sich auf Beutefang: Insekten aller Art und deren Larven sowie andere Kleinstlebewesen sind gefragt.
Anders verhält es sich beim Tausendfüsser, von dem über 120 Arten in der Schweiz heimisch sind. «Sie sind nämlich sehr gemächlich unterwegs», erklärt Dr. José Domingo Gilgado Hormaechea. Er ist an der Universität Basel beschäftigt und der einzige Forscher und Dozent in der Schweiz, der sich den Tausendfüssern widmet. Doch stapeln diese mit ihrem Namen etwas hoch, denn tausend Füsse haben auch sie nicht. Die grösste Anzahl an Beinen hat eine endemische Art im nordwestlichen Vorgebirge der Gabilan Range in Kalifornien mit lediglich 750 Füssen.
Damit Tausendfüsser beim Gehen nicht stolpern, bewegen sie die Beinpaare immer zusammen und schön nacheinander. Um sich vor Feinden zu schützen, sondern sie ein unangenehm riechendes Sekret ab. Sie leben wie die Hundertfüsser im Erdreich, im Kompost oder zum Beispiel unter Holzbrettern, ernähren sich aber nur von abgestorbenem Pflanzenmaterial, wobei sie dieses – wie der Regenwurm – beim Verdauen in wertvollen Humus umsetzen.
Man nimmt an, das gewisse Arten sogar in einer Art Symbiose mit dem Regenwurm leben, denn mit seinen Mandibeln zerkleinert der Tausendfüsser das Futter in für den Regenwurm mundgerechte Stücke. Ob er dies absichtlich tut, ist nicht klar. Viele Tausendfüsser-Arten mögen es genauso feucht wie der Regenwurm, kommen aber auch mit trockeneren Bedingungen gut zurecht.
Oft hält sich der Tausendfüsser auch unter Kokosmatten auf, mit denen die Erdoberfläche von im Handel angebotener Containerware von Pflanzen abgedeckt ist. Hier lebt es sich wie im Schlaraffenland: Immer angenehm temperiert, leicht feucht und genügend Nahrung ist ebenfalls vorhanden. Ist die Kokosmatte in Humus umgesetzt, sucht er sich neues Futter.
Kaum erforscht
Tausendfüsser verfügen über keine Angriffswaffen, jedoch grundsätzlich über der Menge der Beinpaare entsprechende, harte Segmente. Zudem sondern sie permanent ein für Fressfeinde giftiges und übel riechendes Sekret ab. Nützt dieser Schutz nichts, so rollen sie sich einfach zusammen. Einige Arten bilden dabei sogar eine komplett geschlossene Kugel, die durch die harten Segmente kaum zu durchdringen ist. Grössere Tiere, darunter der Igel, machen aber auch davor nicht halt.
Auf die Frage, wie sich unsere Tausendfüsser bezüglich Klimaerwärmung verhalten, weiss Dr. José Domingo Gilgado Hormaechea zu berichten, dass dies grundsätzlich noch wenig erforscht ist. Jedoch hat Walter Bigler, Mitglied der Schweizerischen Zoologischen Gesellschaft, schon vor hundert Jahren alle vorkommenden Tausendfüsser-Arten im Schweizerischen Nationalpark festgehalten, besonders auch, in welcher Höhe sie lebten. Dr. José Domingo Gilgado Hormaechea kontrollierte diese Aufzeichnungen, indem er 2018 und 2019 im Nationalpark nach den von Bigler erwähnten Arten suchte. Dabei stellte er fest, dass diese in der Zwischenzeit in weit höhere Lagen umgezogen waren. Er geht davon aus, dass sie aufgrund der Klimaerwärmung in höhere und somit kühlere Lagen ausweichen.
Was tun bei Invasionen?
Gelegentlich kommt es vor, dass grössere Invasionen von Tausendfüssern auftreten. Dies kann sehr lästig sein, wenn sie sich ins Haus begeben oder sich an Orten im Garten tummeln, an denen wir uns gerne aufhalten. Ein Grund zur Sorge ist dies nicht. Ausser dass sie unangenehm riechen, sind die Tiere keine Gefahr. Entfernen lassen sie sich einfach, indem man sie mit Handwischer und Schaufel vorsichtig zusammenkehrt und andernorts wieder freilässt.
Aber auch unter den Tausendfüssern sind Neozoen zu finden. Drei Arten stammen aus Italien und zwei sind aus Nordeuropa eingewandert. Momentan noch sehr selten anzutreffen, dürften sie für einheimische Arten nicht zum Problem werden. Eine andere als invasiv geltende Art ist der Gewächshaus-Tausendfüsser. Er hat sich schon vor über hundert Jahren mit Pflanzen von Ostasien aus über die ganze Erde verbreitet. Mittlerweile lebt er nicht nur in Gewächshäusern, sondern ist auch in den Gärten von Basel und anderswo reichlich anzutreffen. «In manchen Gärten habe ich Hunderte davon eingefangen. Dabei ist noch nicht klar, ob der Gewächshaus-Tausendfüsser heimische Arten verdrängt. Es ist aber durchaus denkbar», so der momentan einzige Tausendfüsserspezialist der Schweiz.