«Wir machen hier keine Alibiübung»
15.05.2021 Baselbiet, VerkehrDie Sicherheitsdirektorin zu Tempo 30 auf Kantonsstrassen
Lange bissen Gemeinden, die auf Kantonsstrassen eine Herabsetzung des Tempolimits forderten, beim Kanton auf Granit. Nun hat es in «Liestal» ein Umdenken gegeben. Sicherheitsdirektorin Kathrin Schweizer will Gesuche nicht auf die ...
Die Sicherheitsdirektorin zu Tempo 30 auf Kantonsstrassen
Lange bissen Gemeinden, die auf Kantonsstrassen eine Herabsetzung des Tempolimits forderten, beim Kanton auf Granit. Nun hat es in «Liestal» ein Umdenken gegeben. Sicherheitsdirektorin Kathrin Schweizer will Gesuche nicht auf die lange Bank schieben.
Christian Horisberger
Frau Schweizer, lange Zeit blockte der Kanton ab, wenn Tempo 30 auf Kantonsstrassen forderten. Nun hat der Wind offenbar gedreht. Weshalb?
Kathrin Schweizer: Der Regierungsrat ist noch immer für die generelle Höchstgeschwindigkeit von 50 Stundenkilometern auf den Kantonsstrassen. Die Kantonsstrassen verbinden die Gemeinden und können so im Siedlungsgebiet zu übermässiger Lärmbelastung führen und unter Umständen die Verkehrssicherheit etwas vermindern. In diesen Fällen soll eine Beschränkung der Höchstgeschwindigkeit geprüft werden, wenn gewisse Rahmenbedingungen erfüllt sind: Angrenzende Gemeindestrassen haben schon Tempo 30; es besteht ein Gemeinderatsbeschluss für Tempo 30 auf einem Kantonsstrassenabschnitt; das Ganze ist regional abgestimmt.
Was gab eher den Ausschlag? Die darauf drängenden Gemeinden oder die Einhaltung der Lärmschutzvorschriften?
Das ist so etwas wie die Huhn-oder-Ei-Frage: Das eine geht nicht ohne das andere. Wir haben als Kanton die Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Lärmschutzvorschriften eingehalten werden und die Verkehrssicherheit gewährleistet ist. Und natürlich berücksichtigen wir wenn immer möglich die Anliegen der Gemeinden.
Betreffend Lärm wurden bereits 20 Kilometer eruiert, wo Tempo 30 geprüft werden soll. Was zeichnet die jeweiligen Stellen aus?
Die Lärmgrenzwerte werden nicht nur auf diesen 20 Kilometern überschritten. Wir haben uns aber darauf konzentriert, die Bereiche zu definieren, wo der grösste Nutzen durch Tempo 30 zu erwarten ist.
Das sind einerseits Stellen, wo mit Tempo 30 neben der Lärmreduktion zusätzlich auch die Raumqualität erhöht werden kann; und andererseits dort, wo sehr viele Personen vom übermässigen Lärm betroffen sind.
In welchem Zeitraum sollen die Analyse dieser 20 Kilometer und die entsprechenden Anpassungen über die Bühne gehen? Gibt es eine Deadline durch den Bund?
Bundesfristen gibt es keine. Gerade deswegen wollen wir es nicht auf die lange Bank schieben. Die Analyse erfolgt zum einen bei vorliegenden Gesuchen von Gemeinden zur Einführung von Tempo 30 auf Kantonsstrassenabschnitten und zum anderen im Zusammenhang mit Lärmsanierungsprojekten.
Der Kanton beurteilt seine Strassen als grundsätzlich sicher. Unter welchen Voraussetzungen befürwortet der Kanton dennoch Temporeduktionen aus Sicherheitsgründen?
Nach der Signalisationsverordnung kann die Höchstgeschwindigkeit herabgesetzt werden, wenn eine Gefahr nur schwer oder nicht rechtzeitig erkennbar und anders nicht zu beheben ist, sowie wenn bestimmte Strassenbenutzer besonders geschützt werden müssen und dies nicht anders möglich ist. Aus kantonaler Sicht kann dies unter bestimmten Voraussetzungen auf Kantonsstrassenabschnitte ohne Trottoir/Gehbereiche zutreffen, wenn dort Gemeinden eine höhere Sicherheit für den Fussverkehr anstreben.
Die Hürde scheint nach wie vor sehr hoch zu sein. Wie gross ist das Zugeständnis des Kantons wirklich?
Für mich hat die Verkehrssicherheit einen sehr hohen Stellenwert. Die Kantonsstrassen sind grundsätzlich sicher. Aber wo Gehbereiche und Trottoirs fehlen, kann es heikel werden. In jedem Fall müssen wir das gesamte System betrachten. Nicht, dass mit Tempo 30 auf einem Kantonsstrassenabschnitt der Verkehr beispielsweise in die Quartiere verlagert wird. Dann hätten wir wohl wenig zusätzliche Sicherheit gewonnen. Deshalb haben wir als eine der Voraussetzungen formuliert: Tempo 30 auch auf angrenzenden Gemeindestrassen.
Welches sind die wichtigsten Faktoren für ein Ja vom Kanton für Temporeduktionen im Interesse der Fussgängersicherheit?
Tempo 30 auf einem Kantonsstrassenabschnitt wird nur eingeführt, wenn die Massnahme nötig, zweckund verhältnismässig ist. Das wird mit einem Gutachten abgeklärt, wenn das Gesuch der Gemeinde die erwähnten Bedingungen erfüllt.
Wie wahrscheinlich ist es, dass eines oder mehrere der bereits eingereichten Gesuche tatsächlich bewilligt werden?
Wir machen hier keine Alibiübung. Sind die Voraussetzungen gegeben und zeigt das Gutachten, dass sich die Massnahme als nötig, zweckund verhältnismässig erweist, so ist die Wahrscheinlichkeit einer Bewilligung sehr hoch.
Gesuche hat es in den vergangenen Jahren oder Jahrzehnten schon manche gegeben. Ist nun damit zu rechnen, dass etliche Gemeinden ihre vormals abgelehnten Gesuche wieder aus der Schublade ziehen?
Das könnte ich mir gut vorstellen. Jetzt sind die Rahmenbedingungen klar und die Gemeinden müssen nochmals genau überprüfen, für welche Abschnitte sie Tempo 30 notwendig finden. Denn es wird nicht blindlings auf dem gesamten Innerortsgebiet einer Gemeinde Tempo 30 eingeführt.
Wer trägt die Kosten für Analyse und Umsetzung von Tempo 30 auf Kantonsstrassen?
Die Kosten liegen beim Strasseneigentümer, also für die Kantonsstrassen beim Kanton und bei den Gemeindestrassen bei der Gemeinde.
Sie schicken die neue Regelung jetzt in eine Anhörung. Allerdings haben mehrere Gemeinden auf der Basis der neuen Richtlinien bereits Gesuche eingereicht, mehrere davon befinden sich in Prüfung. Dieses Vorgehen ist etwas irritierend.
Die Gemeinden haben ihre Gesuche nicht aufgrund neuer Richtlinien eingereicht. Mit den Gesuchen haben die Sicherheitsdirektion und die Bau- und Umweltschutzdirektion einen Prozess angestossen, um die Gesuche zu prüfen und dabei nicht nur Einzelfallbetrachtungen durchzuführen. Es sollen eben auch weitergehende Überlegungen über das gesamte Kantonsstrassennetz angestellt werden. Daraus sind die Regeln bezüglich Voraussetzungen und Ablauf der Prüfung hervorgegangen, die nun zur Anhörung gegeben worden sind.
Für Lärmschutz und Sicherheit: Kanton denkt bei Tempo 30 um
ch. Bisher hat der Kanton Baselland alle Gesuche von Gemeinden abgelehnt, die für mehr Verkehrssicherheit in ihren Dörfern Tempo 30 auch auf Kantonsstrassen forderten. Das soll sich ändern: Der Regierungsrat hat die entsprechenden Kriterien neu definiert. Demnach sollen unter bestimmten Voraussetzungen Temporeduktionen künftig zugelassen werden.
Wie die Regierung mitteilt, trete die Sicherheitsdirektion auf Gesuche von Gemeinden unter folgenden Voraussetzungen ein: Auf angrenzenden Gemeindestrassen besteht bereits eine Tempo-30-Zone oder sie ist vorgesehen. Es liegt ein Gemeinderatsbeschluss mit Begründung für Tempo 30 vor. Soweit «möglich und nötig» hat sich die Bevölkerung in einer Abstimmung ebenfalls positiv dazu geäussert. In einem Gutachten werden sodann Zweck- und Verhältnismässigkeit der Temporeduktion geprüft sowie deren Auswirkungen wie Reisezeitverlängerungen für den öffentlichen Verkehr oder der Ausweichverkehr in die Quartiere. Potenzielle «Kandidaten» für eine Temporeduktion sind gemäss Regierungsrat Strassenstücke ohne Trottoir.
Aus mehreren Gemeinden im Leimental sowie aus Liestal, Maisprach oder Oltingen seien Anfragen hängig, die ersten befänden sich bereits in Prüfung, ist der Mitteilung weiter zu entnehmen. Erste Tempo-30-Bereiche auf Kantonsstrassen innerorts seien frühestens ab Herbst zu erwarten.
Der Kanton will ferner prüfen, was mit Tempo 30 zur Verminderung des Verkehrslärms innerorts auszurichten ist. Auf 50 Kilometern des Kantonsstrassennetzes werden gegenwärtig innerorts die Lärmgrenzwerte überschritten. Auf Abschnitten mit sehr grossen Überschreitungen – insgesamt rund 20 Kilometer – soll im Detail überprüft werden, wie sich Tempo 30 auf Strassennetz, öffentlichen Verkehr und Individualverkehr auswirkt. Diese Analyse nimmt der Kanton auf eigene Faust im Zuge von Lärmsanierungsprojekten vor, während er Tempo 30 mit dem Fokus auf die Sicherheit nur auf Gesuche von Gemeinden hin überprüft.
Der Regierungsrat gibt die neu definierten Kriterien nun an Verbände, Transportunternehmen und VBLG zur Anhörung. Vor den Sommerferien will er die Strategie verabschieden.