Mit Willy Dunkel auf der allerletzten Fahrt
07.04.2021 Gesellschaft, Waldenburg, VerkehrElmar Gächter
Die fünf Bahnwagen füllen sich im Nu. Unter den Passagieren sind auffallend viele jüngere Fahrgäste, die sich dieses einmalige Highlight nicht entgehen lassen wollen. Fast euphorisch wird die Hauptperson der letzten Nachtstunden des ...
Elmar Gächter
Die fünf Bahnwagen füllen sich im Nu. Unter den Passagieren sind auffallend viele jüngere Fahrgäste, die sich dieses einmalige Highlight nicht entgehen lassen wollen. Fast euphorisch wird die Hauptperson der letzten Nachtstunden des altehrwürdigen «Waldenburgerli» begrüsst. Man kennt Willy und er kennt viele von ihnen. Kein Wunder. Seit 31 Jahren ist Willy Dunkel als Wagenführer auf den 13 Kilometer langen und 75 Zentimeter breiten Schienen unterwegs. Er hat die Strecke nach Liestal und zurück zigtausendfach unter die Räder seiner Steuer- und Triebwagen genommen. Oder in anderen Zahlen ausgedrückt: 1,5 Millionen Fahrkilometer hat er absolviert und dabei fast 40-mal den Erdball umrundet.
Pünktlich um 0.21 Uhr verlässt die 5-fach-Traktion den Bahnhof Waldenburg. Pünktlichkeit ist Willy Dunkel wichtig, nicht nur heute. Es ist kalt im Cockpit, Schneeflocken begleiten die Fahrt in das 180 Meter tiefer gelegene Liestal, die allerletzte, nicht nur für das Rollmaterial, sondern auch für Willy. Nach der Rückkehr in Waldenburg wird seine Pensionierungszeit beginnen, ein Jahr vor dem offiziellen Rentenalter. «Für mich lohnt es sich nicht, mich auf die Trämli umzuschulen», hält er ohne grosse Wehmut fest. Ruhig und absolut sicher lenkt er seine 90 Meter lange Komposition über den schmalen Schienenstrang. «Man spürt die 17 Tonnen des normalerweise nicht angehängten fünften Wagens», sagt er und ist beim Bremsen speziell vorsichtig. Auch um diese Zeit steigen an den Haltestellen einzelne Nachtschwärmer zu.
Feuchte Hände und Glück
Nachtdienst macht Willy Dunkel nicht zu schaffen, eher die unregelmässige Arbeitszeit. «Da muss man schon das eine oder andere Mal auf Anlässe mit den Kollegen verzichten.» An seinem Beruf schätzt er vor allem die Selbstständigkeit. Diese war ihm auch wichtig, als er mit gut dreissig Lebensjahren seinen gelernten Beruf als Schreiner an den Nagel hängte und sich für die Stelle bei der Waldenburgerbahn bewarb. Wenn er von der Sicherheit auf der Strecke spricht, tönt es wie Tag und Nacht. «Es ist vieles besser geworden in den vergangenen 15 Jahren. Man hat viele Niveauübergänge aufgehoben oder mit Schranken und Lichtsignalanlagen abgesichert», so Dunkel. Auch er war schuldlos in den einen oder anderen Crash verwickelt. «Es hatte rechte darunter, bei denen es auch Tote hätte geben können. Beim Vorbeifahren am Neuhof nördlich des Bad Bubendorf hatte ich schon ab und zu feuchte Hände», erinnert er sich. Er habe Glück beansprucht, viel Glück sogar.
Schon erreichen wir den Bahnhof Liestal. Der Zwischenhalt vor der Rückkehr ins Tal macht bewusst, wie wichtig vielen Leuten der Abschied von ihrem «Waldenburgerli» ist. Längst nicht alle sind regelmässige Benutzerinnen oder Benutzer der Bahn, doch allen gemeinsam scheint eine besondere Affinität zu ihr. Um 0.55 Uhr gibt Lorenz Degen, seines Zeichens Historiker sowie Bahnkenner und Bahnliebhaber, ausgerüstet mit Bähnlermütze, Signalpfeife und Abfahrkelle, den Weg frei für die letzten 13 Kilometer. Auch für Willy Dunkel eine besondere Fahrt. Er will nicht von Traurigkeit sprechen, aber eine Wehmut ist da. Auch wenn nicht alles in den 31 Jahren nur positiv gewesen ist. Der Vandalismus in den Zügen und die meist alkoholisierten Randalierer haben ihm zu schaffen gemacht. «Ab und zu musste ich auch die Polizei alarmieren, doch meistens waren die Typen bei deren Eintreffen schon über alle Berge», blickt Dunkel zurück. Doch die Situation hätte sich in den vergangenen Jahren merklich gebessert. «Heute sind sie mit ihren Handys beschäftigt», nennt er einen möglichen Grund.
Der Nachtzug nähert sich Oberdorf. Von Weitem fallen die Blaulichter eines Rettungsfahrzeugs auf. «Hoffentlich kein Unfall», so der erste Gedanke des Wagenführers. Doch schnell folgt die Erleichterung. Mitglieder der Feuerwehr Wolf haben es sich nicht nehmen lassen, ihr Bähnli mit einem Spalier und leuchtenden Stablampen zu verabschieden. Kurz vor Waldenburg kommt die Gelegenheit für Dunkel, sich von seinen Fahrgästen zu verabschieden. Es ist ihm wichtig, ihnen und seinem Arbeitgeber für das langjährige Vertrauen zu danken. Eine gewisse Anspannung ist ihm anzumerken, und so lässt er wie zur Erleichterung die Signalpfeife seines Steuerwagens laut und mehrfach in die tiefe Nacht ertönen.
Applaus begleitet Willy Dunkel beim Aussteigen. Die Leute wissen, was sie an ihm gehabt haben. Zeit und Gelegenheit für ihn, sich einen Schlummertrunk zu genehmigen. Doch gefehlt. Ordnung in den Wagen ist ihm bis zum Schluss wichtig und so gilt es, die Abfallkörbe zu leeren. Auch heisst es, wieder in das Cockpit seiner Zugskomposition zu steigen. Es geht nochmals Richtung Norden, allerdings nur bis zum Bad Bubendorf. Dort warten die Steuer- und Triebwagen darauf, von Tiefganganhängern abgeholt zu werden und in der Slowakei ein neues Bahnleben anzutreten. Willy Dunkel aber kann sich endlich dem Schlaf des Gerechten widmen und von einer Zukunft träumen, in der er nur noch als Fahrgast auf dem «Waldenburgerli» unterwegs sein wird.
LESER ERINNERN SICH
Oktober 1953: «Willst du meine Einladung haben und damit die letzte Fahrt mit Dampf und die erste mit der elektrifizierten Waldenburgerbahn mitmachen?» Unggle Joggi – Schwyzer Joggi, der zwei Jahre später zum Dr. h.c. iur. der Uni Basel ernannte Jakob Schweizer aus Oberdorf – hatte mir dieses überraschende Angebot gemacht. «Weisst du, für dich sind diese Fahrten interessanter als für mich.»
Eingeladen zu diesem festlichen Sonntag vom 25. Oktober 1953 waren nur Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, also wer zur politischen Nomenklatura des Tals und des weiteren Baselbiets gehörte, Vertreter aus Nachbarkantonen und natürlich der Bahn. Dazu kamen viele Journalisten und Fotografen. Und jetzt sollte ich als 13-jähriger Bub und einziges Kind ebenfalls dabei sein. Es war ein Tag, der mir unauslöschlich im Gedächtnis geblieben ist. Da auch die jüngsten Gäste mindestens gegen 30 Jahre alt waren, darf ich behaupten, dass ich wohl heute der einzige noch lebende Teilnehmer mit intakten Erinnerungen bin, der diese zwei historischen Fahrten mitgemacht hatte. Um in der WB-Sprache zu sprechen: «Und hinde fertig.»
Am Sonntagmorgen war ich frühzeitig im Bahnhof Waldenburg. Bald schnaubte die Dampflok mit den voll besetzten Wagen, darunter ein Bub namens Thomi, zum letzten Mal durch die Dörfer Liestal zu. Dort stiegen wir in die komfortablere neue Zugskomposition um. Eine Schulklasse aus Liestal stiess zu uns, sodass ich nicht mehr das einzige Kind blieb.
In der elektrifizierten Bahn fuhren wir nun das Tal hinauf. An jeder Station hielt der geschmückte Zug, es wurde eifrig von Profis und Amateuren fotografiert und viele Leute, Frauen zum Teil in der Baselbieter Sonntagstracht, standen neugierig da und winkten. Männer- und Frauenchöre sangen, Reden wurden gehalten von gut gelaunt bis feierlich und die Stimmung war fröhlich, aber nie überbordend. Das hätte dem Charakter der Baselbieter nicht entsprochen. Immerhin hatte die neue Bahn dem Selbstbewusstsein der Leute aus dem Waldenburgertal einen kräftigen Schub gegeben.
Während des ganzen Tags hatte kein Hahn nach mir gekräht. Ich war einfach auch im Zug und sog die Ereignisse in mich auf. Wie gesagt, unvergesslich bis heute. Vielleicht wurde hier der Grundstein für meine bedingungslose Liebe zum «Waldenburgerli» gelegt.
Am andern Tag wurde in den Zeitungen ausführlich über diesen Freudentag berichtet. Man war des Lobes voll und unterstrich die Wichtigkeit der Waldenburgerbahn als Lebensader für das Tal. Auf einem dieser Fotos glaubte ich mich zu erkennen, wie ich aus einem Wagenfenster schaute. Aber erst Jahrzehnte später gab mir die damalige Regierungsrätin Elsbeth Schneider den entscheidenden Wink. Wir waren zusammen an einem Pressegespräch mit den WB-Verantwortlichen im Bad Bubendorf. Bei der anschliessenden gemeinsamen Fahrt das Tal hinauf erzählte ich ihr von diesem Foto. Die Regierungsrätin schaute mich erst seltsam an und sagte dann mit vorwurfsvollem Unterton: «Sie müssen nicht sagen, der Bub auf dem Foto seien wahrscheinlich Sie gewesen. Sie waren es. Punktum.»
Bis heute habe ich diese «Empfehlung» der Regierungsrätin nicht vergessen. Sie lautet: Schreibe klar und deutlich, zweifle nicht an deiner Meinung und sage, was du denkst. Hinde fertig. Punktum!
Thomas Schweizer, Füllinsdorf