Lottis Schicksalsnacht
09.04.2021 Natur, Porträt, SissachHanspeter Gsell
Wir sind auf dem Flughafen von Kingstown, der Hauptstadt von «St. Vincent and the Grenadines» gelandet. Hier soll uns ein Taxifahrer namens John in Empfang nehmen und uns zum Hafen fahren. Von dort werden wir mit der Postfähre zur Insel Bequia ...
Hanspeter Gsell
Wir sind auf dem Flughafen von Kingstown, der Hauptstadt von «St. Vincent and the Grenadines» gelandet. Hier soll uns ein Taxifahrer namens John in Empfang nehmen und uns zum Hafen fahren. Von dort werden wir mit der Postfähre zur Insel Bequia übersetzen. Doch weit und breit ist kein John zu sehen. Wir fragen uns durch den Flughafen. Nach geraumer Zeit treffen wir auf jemanden, der jemanden kennt, der weiss, wer wissen könnte, wo John steckt.
Die Suche hat Erfolg: John wird zu Hause in seinem Bett gefunden, wo er sich einen gewaltigen Rausch ausschläft. Als er nach einer Weile im Flughafen eintrifft, ist die Postfähre längst weg. John hingegen hat uns bereits ein Hotel organisiert.
Das «Last Resort» ist, genau wie sein Name sagt, so ziemlich das Allerletzte. Eine völlig besoffene Gastgeberin («Hi, I’m Marylou from Chappadick … äh … ähh … Chappaquiddick, Texas oder maybe Massachusetts.») empfängt uns und nötigt uns zu mehreren Daiquiris, Tequilas und Cuba Libres.
«Hi, I’m Marylou from Chappa... » «Ja, ich weiss, oder so», sage ich und lege mich schlafen.
Überfall im Morgengrauen
Am frühen Morgen wecken uns schlurfende Schritte. Vor dem Fenster bewegen sich unheimliche Gestalten. Oh Gott! Ein Überfall! Ich reisse die Türe auf und falle beinahe in Ohnmacht. Vor unserer Kammer hat sich eine ganze Steelband aufgebaut und beginnt wie auf Kommando zu trommeln. Rasta-Männer unter farbigen Mützchen grinsen mich fröhlich an. In ihren Zahnlücken stecken qualmende Joints, man dampft feingeistig vor sich hin.
Bevor wir völlig eingenebelt sind, fliehen wir aus dem Zimmer und rennen direkt in die Arme von John. Er bringt uns heil zum Hafen. Die Postfähre, möglicherweise ein Schwesterschiff der Arche Noah, nicht nur was das Alter, sondern auch die Tierbestände angeht, befördert uns nach Bequia. Meckernde Ziegen und gackernde Hühner bevölkern das Deck, farbenfroh gekleidete Menschen haben es sich gemütlich gemacht. In der Bordküche im Unterdeck läuft die Fritteuse auf Hochtouren. Das Angebot ist beschränkt: Fish and Chips oder Chips and Fish. Mein Magen signalisiert mir ein deutliches «Nein!». Als ich mich trotzdem der Treppe zur Küche nähere, macht er sich lautstark bemerkbar und lässt mich erbleichen. Ich verzichte.
In Kingstown war auch ein mit Teer beladener Lastwagen rückwärts auf die Fähre geholpert. Im Hafen von Port Elizabeth auf der Insel Bequia soll er das Schiff wieder verlassen. Zu diesem Zweck hatte man zwischen der Fähre und dem Hafen eine provisorische Brücke konstruiert. Langsam setzte sich der Lastwagen in Bewegung. Als die Vorderachse das Land erreicht hatte, wurde das Schiff von der Dünung leicht nach unten gezogen. Dabei öffnete sich die Klappe am hinteren Ende der Ladefläche, der Teer verteilte sich fein säuberlich auf dem Schiffsdeck.
Als der Chauffeur das Malheur bemerkte, gab er Gas, der Wagen bäumte sich leicht auf. Dabei verlor er zwar die Hälfte seiner Ladung, sprang jedoch mit der Hinterachse auf dem sicheren Boden auf.
Alec Guinness übernimmt
Im Hafen, gleich neben dem Polizeiposten, werden wir von drei bekifften Rastamützen begrüsst, die einheimische Raucherwaren feilbieten.
Ein Doppelgänger von Alec Guinness salutiert, verfrachtet unsere Koffer in einen umgebauten Land-Rover; wir setzen uns auf die Pritsche und los geht’s. Aber wie! Als ob er eben dem japanischen Kriegsgefangenenlager am River Quai entkommen wäre, braust er mit uns über eine kleine Hügelkuppe, eine riesige Staubwolke hinter sich herziehend. Das Strässchen ist schmal und unübersichtlich, links fällt der Bergrücken steil zum Ufer ab.
Plötzlich reisst Sir Alec das Steuer scharf nach links, mein Herz setzt aus und die Atmung reduziert sich auf das überlebensnotwendige Minimum. Wir fliegen! Ein fliegender Land-Rover! Pilotiert von Sir Alec Guinness! Nein. Natürlich fliegen wir nicht richtig. Ein paar Meter werden es trotzdem gewesen sein.
Als die Räder aufsetzen, befinden wir uns auf einer steilen Betonrampe und donnern im Höchsttempo Richtung Küste. Am Strassenrand stehen Menschen und applaudieren. Quietschend kommt der Wagen vor dem Hotel zum Stehen. Die Aussicht auf das karibische Meer ist unglaublich schön! Ich kann es nicht unterlassen, dies dem herbeigeeilten Manager zu sagen. «What a beautiful view!», rufe ich ihm zu.
«Scheiss drauf!», meint Gerd aus Stuttgart. «Nach zwei Wochen hast du genug von deiner ‹beautiful view›. Ich aber habe einen Vertrag bis Ende Jahr!» Selbstverständlich dachte ich nicht im Traum daran, mir meinen Urlaub von einem bescheuerten, schwäbischen Hoteldirektor vermiesen zu lassen.
Lothars Latschen
Bei Lothars Latschen handelt es sich weder um Designerfinken aus der Sammlung von Imelda Marcos, der früheren philippinischen Präsidentengattin und berüchtigten Schuhfetischistin, noch um die neusten Kreationen von Nike und Konsorten.
Schuhe sind auf karibischen Inseln genau besehen kein Thema. Auch wenn manch ein Insulaner auf grossem Fuss leben mag, er tut’s meist barfuss. Da man dies von Kindheit an pflegt, hat man sich eine dicke Haut zugelegt.
Nein – bei Lothars Latschen handelt es sich um eine Waffe, ein durch und durch biologisches Insektizid gegen die Gemeine Deutsche Küchenschabe, auch als Kakerlake bekannt. Oder weil es schöner tönt: La Gugaratscha. Nicht, dass es in der Karibik besonders viele dieser Krabbler gäbe – ganz im Gegenteil. Die Regel lautet nämlich: viele Menschen – viele Kakis, wenig Menschen – wenig Kakis.
Und da es auf karibischen Inseln nur eine überschaubare Menge an Menschen gibt, gibt es dort auch nur eine überschaubare Menge an Kakis. Man könnte möglicherweise behaupten, dass jeder Mensch ausschliesslich die Kakerlaken sieht, die er zu sehen verdient. Im Übrigen denke ich, dass Kakerlaken überaus intelligent sind. Sie glauben mir nicht? Dann lesen Sie mal Frank Schätzings «Nachrichten aus einem unbekannten Universum».
So ernst wollte ich eigentlich nicht werden und wende mich deswegen einer ganz bestimmten Kakerlake zu. Möglicherweise hiess sie Lotti, hatte viele kleine Kinder und wohnte schon ihr ganzes Kakerlaken-Leben hinter dem Kühlschrank in Bungalow 4. Bis zu dieser Nacht, die ihre Schicksalsnacht werden sollte, hatte sie sich noch nie Gedanken darüber gemacht, ihr Domizil zu wechseln.
Und auch heute freute sie sich auf ein aktives Nachtleben und ein abwechslungsreiches Menü. Kaum hatte sich die gleissende Sonne ins Meer gesenkt, verliess Lotti ihre Wohnung und machte sich gütlich an den Krümeln, die Marianne so achtlos liegen gelassen hatte. Sie knabberte sich wild durch Pumpernickel, Knäckebrot und Zuckertüten und nippte an der wunderbaren deutschen Marmelade.
Sie muss sich gefühlt haben wie seinerzeit der Gepäckträger vom Münchner Hauptbahnhof, als er nach entbehrungsreicher Zeit im Himmel endlich wieder im Hofbräuhaus einkehren durfte.
Angesichts des prächtigen Buffets vergass unsere Kakerlake die Zeit, ass weiter und weiter und weiter. Als das Licht anging, war es zu spät. Marianne betrat Bungalow Nummer 4, sah Lotti, und schrie den verhängnisvollen Satz: «Lothar, dein Latschen!»
Der Rest ist Geschichte. Und bevor Sie nun nach deren Moral suchen: Vergessen Sie’s! Es gibt keine. Höchstens einen Merksatz: Wo immer Sie hinfahren: Kaki war schon vor Ihnen da.
Ausser in einem Hotelzimmer auf der Insel Les Saintes. Denn dort hatte sich bereits ein anderes Vieh eingenistet. Gegen «ihn» hatten auch Kakis keine Chance. Er war grün, gross und hatte Warzen. Er war ein ausgewachsener Leguan, sass auf der nicht funktionierenden Klimaanlage und frass alles, was ihm vor seine Zähnchen kam. Auch Kakerlaken. Mit der Zeit war er uns ans Herz gewachsen, wir nannten ihn Anton, wie der kleine Drache aus Nenas Lied. In der Nacht hörten wir Anton manchmal singen.
Glaubst du, dass es heute noch Drachen gibt?
Und dass man sie manchmal auch fliegen sieht? (…)
Und dann flog Anton ganz entspannt, zurück ins schöne Drachenland.
In Zeiten, in denen an grosse Reisen nicht zu denken ist, erscheint in der «Volksstimme» in loser Folge eine siebenteilige Serie zu Hanspeter Gsells Reise in seine Vergangenheit.
Saint Vincent and the Grenadines
hpg. St. Vincent ist ein unabhängiger Inselstaat in der Karibik im Bereich der Westindischen Inseln. Die Inseln liegen südlich von St. Lucia und nördlich von Grenada. Zum Staatsgebiet gehören neben den Grenadinen-Inseln auch Bequia sowie das versnobte Mustique, Feriendomizil gekrönter Häupter. Hauptstadt des Landes ist Kingstown. Wir haben die Inseln 1987 besucht.