«Wir müssen Täter, nicht Opfer bestrafen»
16.02.2021 Abstimmungen, Politik, BaselbietSebastian Schanzer
Frau Graf, sind Sie schon einmal einer Niqab-Trägerin begegnet? Welche Vorstellung machen Sie sich von der Person darunter?
Maya Graf: Nur wenige von uns sind bisher einer Person mit Niqab begegnet. Laut einer jüngst erschienenen ...
Sebastian Schanzer
Frau Graf, sind Sie schon einmal einer Niqab-Trägerin begegnet? Welche Vorstellung machen Sie sich von der Person darunter?
Maya Graf: Nur wenige von uns sind bisher einer Person mit Niqab begegnet. Laut einer jüngst erschienenen Studie eines Religionswissenschaftlers an der Universität Luzern gibt es in der Schweiz lediglich 30 bis 40 Trägerinnen. Im Baselbiet sind es eine bis zwei. Natürlich sehe ich das nicht gerne. Aber sollen wir wegen dieser wenigen Personen ein Verbot in unsere Verfassung schreiben? Nein. Wenn schon, dann müsste das auf kantonaler Ebene geregelt werden. Wie es bei den Fussball-Hooligans ja teilweise schon der Fall ist. Keine Frau wird weniger unterdrückt, nur weil sie sich in der Öffentlichkeit nicht mehr verhüllen darf. Das ist reine Symbolpolitik.
Ist das Tragen eines Niqabs Ihrer Meinung nach Ausdruck von mangelnder Integration?
Das zu behaupten, ohne mit der Person gesprochen zu haben, wäre ein Vorurteil. Kommt hinzu, dass es sich teilweise bei den Trägerinnen ja um Konvertitinnen handelt, die einem religiösen Fanatismus gefolgt sind. Sie stammen aus der Mitte unserer Gesellschaft. Die Frage nach deren Integration stellt sich deshalb hier nicht so zwingend.
Die Initianten vom Egerkinger Komitee verstehen den Niqab als Zeichen der Unterdrückung der Frau. Sie nicht?
Ich heisse die Verhüllung von Frauen wie auch andere frauenfeindliche Praktiken in allen Weltreligionen nicht gut. Aber nochmals: Kleidervorschriften gehören nicht in die Bundesverfassung eines liberalen Staates. Das ist nicht verhältnismässig.
Auch nicht, wenn diese Kleider die Unterdrückung von Frauen symbolisieren?
Es stört mich grundsätzlich, Menschen aufgrund ihrer Kleidung oder ihres Äusseren zu beurteilen. Wenn ich die Gelegenheit hätte, mit solch einer Frau zu reden, würde ich sie natürlich fragen, warum sie sich verhüllt. Wenn die Frau sagt, sie werde gezwungen, den Niqab zu tragen, haben wir heute schon den Straftatbestand der Nötigung, den wir ahnden können. Wir müssen den Täter und nicht das Opfer bestrafen. Aber vielleicht fragt sie ja auch zurück: «Warum tragt ihr bauchfreie T-Shirts oder Hotpants?» Wie kann ich beurteilen, ob eine Frau, die sich dazu entscheidet, einen Niqab zu tragen, selbstbestimmt handelt oder nicht?
Damit ziehen Sie sich aus der Affäre. Vor 50 Jahren waren auch längst nicht alle Frauen für ihr eigenes Stimmrecht.
Wenn wir die Selbstbestimmung der Frau fördern und die Unterdrückung bekämpfen wollen, müssen wir gute Rahmenbedingungen auf institutioneller Ebene schaffen. Die Gleichstellung muss konsequent gefördert werden und auch die Integration von Migrantinnen und Migranten. Gerade in der Schweiz gibt es grossen Nachholbedarf. Doch genau dagegen wehren sich die Initianten seit Jahrzehnten mit Händen und Füssen. Daher sind sie völlig unglaubwürdig. Die gleichen rechtspopulistischen Kreise werden sich im Parlament wieder gegen jede Gleichstellungsmassnahme wehren, sei es zur Bekämpfung der häuslichen Gewalt, für Lohngleichheit oder zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
Sie präsidieren die «alliance F», einen überparteilichen Verband, der die Interessen der Frau vertritt. Wie umstritten ist die Vorlage im Verband?
An unserer Online-Mitgliederversammlung haben wir nach ausführlichen Diskussionen unsere Parole gefasst und ein sehr deutliches Nein beschlossen. Die Deutlichkeit hat mich durchaus erstaunt. Auch die grossen Frauendachverbände wie der Schweizerische Katholische Frauenbund, die Evangelischen Frauen Schweiz, die Jüdischen Frauenorganisationen, der Verband von Business and Professional Women Schweiz (BPW) oder «Terre des Femmes» sind gegen die Initiative. Jüngst hat eine Journalistin mir gegenüber gesagt, die Feministinnen würden sich beim Verhüllungsverbot in zwei Lager teilen. Das sehe ich ganz und gar nicht so. Es gibt einzelne, laute Befürworterinnen, aber der grosse Teil der Frauen ist dagegen.
An der Basis sieht es laut Umfragen aber nicht so klar aus.
Die Initianten führen den Abstimmungskampf durchaus geschickt. Sie instrumentalisieren die Frauenrechte, um ihre Islam- und Ausländerfeindlichkeit zu kaschieren. In diese Falle dürfen wir nicht tappen.
Eine zentrale Rolle im Abstimmungskampf spielt die Menschenrechtsaktivistin und Islam-Kennerin Saida Keller Messahli. Wie bewerten Sie das Engagement dieser Frau?
Ich kenne sie nicht persönlich, habe aber viel von ihr gelesen. Ihre Arbeit und der Kampf für die Rechte der Frau, den sie in muslimisch geprägten Ländern führt, ist sehr wichtig. Sie treibt die Reformation an. An sich wollen wir ja dasselbe: In keiner Religion sollen Frauen oder Männer unterdrückt werden. In Bezug auf diese Initiative unterscheiden sich einfach unsere Wege zum Ziel. Über ein schweizweites Verbot möchte ich nicht gehen. Denn ein Verbot führt zur Ausgrenzung anstatt zur Partizipation. Nebenbei bemerkt gibt es bezüglich Frauenrechte auch in der christlichen Religion noch viel zu tun, zum Beispiel beim Zugang von Frauen ins Priesteramt in der katholischen Kirche.
Wird die Initiative abgelehnt, tritt der Gegenvorschlag des Bundesrats in Kraft. Was trägt dieser zur Stärkung von Frauenrechten bei?
Der indirekte Gegenvorschlag von Bundesrat und Parlament würde nach einem Nein zur Initiative und nach Ablauf der Referendumsfrist sofort in Kraft treten und konkret helfen. Er regelt nicht nur, dass in Amtsstellen und im öffentlichen Verkehr zur Identifikation das Gesicht gezeigt werden muss. Wichtig ist auch, dass der Gegenvorschlag die Stärkung der Frauenrechte in der Entwicklungszusammenarbeit und Integrationspolitik vorsieht. Dazu sollen spezifische Förderprogramme zur Gleichstellung beitragen.
Das «Egerkinger Komitee» hat die Linken mit ihrer erfolgreichen Minarettinitiative 2009 bereits das Fürchten gelehrt. Haben Sie Angst vor dieser Initiative?
Alle Parteien mit Ausnahme der SVP lehnen die Initiative ab. Wir sind uns auch alle einig, dass der Gegenvorschlag die bessere Lösung ist. Dennoch: Es ist eine emotionale Debatte und das macht die Angelegenheit schwierig.
Der Zeitpunkt dieser Abstimmung ist gleich doppelt ironisch. Zum einen ist eine Gesichtsverhüllung derzeit vom Bundesrat verordnet, zum anderen feiern wir dieses Jahr 50 Jahre Frauenstimmrecht. Wirken sich diese Aspekte auf die Abstimmung aus?
Ich hoffe, dass sich die Menschen bewusst sind, dass wir derzeit pandemiebedingt ebenfalls das Gesicht bedecken, und dass wir im Jahr 2021, im Jubiläumsjahr des Frauenstimmrechts, nicht eine Kleiderordnung für Frauen in unsere Bundesverfassung schreiben. Doch gerade unsere Erfolge in der Gleichstellung werden nun von den Initianten instrumentalisiert. Das ist gefährlich. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Schweiz immer noch sehr patriarchalisch unterwegs ist.
Parlament und Bundesrat sind gegen die Initiative
sda. Die Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot» war im Jahr 2017 vom sogenannten Egerkinger Komitee eingereicht worden. Dieses hatte bereits die Anti-Minarett-Initiative ergriffen und durchgebracht. Die neue Initiative verlangt, dass niemand sein Gesicht im öffentlichen Raum oder bei allgemein zugänglichen Dienstleistungen verhüllen darf. Ausnahmen wären ausschliesslich aus Gründen der Sicherheit, der Gesundheit, des Klimas und des einheimischen Brauchtums möglich. Ausserdem soll niemand eine Person zwingen dürfen, ihr Gesicht zu verhüllen.
Das Parlament empfahl nach einer emotionalen Debatte die Initiative zur Ablehnung. Auch der Bundesrat lehnt die Initiative ab. Er hatte aber einen indirekten Gegenvorschlag ausgearbeitet, der die Kompetenz über Verhüllungsverbote bei den Kantonen belässt. Allerdings sieht dieser vor, dass alle, die sich im öffentlichen Verkehr oder bei Behörden identifizieren müssen, die gesetzliche Pflicht haben, das Gesicht zu zeigen. Den Gegenvorschlag hatten die Räte im Frühling angenommen.