Thomas Schweizer

Die Durchsicht ihrer zahlreichen früheren Schriften hatte einer damals bekannten Radiomitarbeiterin und früheren einflussreichen Journalistin den freudigen Satz entlockt: «Wie herrlich frech ich schrieb!»

Notiert hatte diesen Satz die 1888 geborene Elisabeth Thommen aus Waldenburg, die jetzt in Zürich für die Geschichte des «Schweizer Frauenblattes» einen «Kleinen Rückblick» verfasste. Entstanden ist ein kostbares Dokument ihres Denkens und ihrer Arbeit.

Die frühere Radiofrau war eine Enkelin des Industriellen Gedeon Thommen, dem «Alfred Escher des Waldenburgertals», und eine prominente Vertreterin der illustren Thommen-Straumann-Dynastie. Zu dieser Familie gehörten auch der Orientalist Rudolf Gelpke (einer der ersten Islamforscher und Übersetzer von persischer und arabischer Literatur), der Arzt und VR-Präsident der «Revue Thommen»-Uhrenfabriken, Roland Straumann, und die in Riehen sesshaft gewordene Künstlerin Dorette Huegin-Straumann.

Ein untypisches Frauenleben
Elisabeth Thommen führte ein untypisches Frauenleben. Nach den Erfahrungen ihrer Mutter, die einen Sohn von Gedeon Thommen geheiratet und ihr leidvolles Dasein in einem Tagebuch, das uns erschüttern lässt, festgehalten hatte, wollte sie sich entschlossen für die Rechte der Frauen einsetzen. Als Kindergärtnerin hatte sie schon früh Geschichten zu schreiben begonnen. Während ihrer unglücklichen Ehe in Liestal war sie 1914 für zwei Monate alleinige Redaktorin des «Landschäftlers». Nach der Rückkehr des Redaktors von der Kriegsfront wurde sie sogleich wieder entlassen, was für sie eine schmerzhafte Erfahrung bedeutete.

Nach der Scheidung zog sie nach Zürich, wo sie weiter journalistisch tätig war. Für das 1919 neu gegründete «Schweizer Frauenblatt» wurde sie die erste Redaktorin. Von Anfang an nahm sie kein Blatt vor den Mund und beschrieb bereits alle Themen, die Jahrzehnte später Iris von Roten in ihrem berühmten Buch «Frauen im Laufgitter», 1958, breit und fundiert darstellen sollte.

Doch ihre offenen und ungewohnten Worte stiessen viele Frauen vor den Kopf. Nach etwas mehr als zwei Jahren wurde Elisabeth Thommen auch hier wieder entlassen. Noch nie hatte eine Frau derart direkt und unerschrocken auf die rechtliche Ungleichheit der Frauen hingewiesen.

Die erste Frau am Radio
In Zürich lernte sie auch den damals bekannten Schriftsteller Jakob Bührer kennen. Die beiden verliebten sich, heirateten und bildeten während Jahren eine fruchtbare Arbeitsgemeinschaft. Dabei war sie weit mehr als nur seine Kritikerin und Korrektorin seiner Leitartikel und literarischen Texte.

Bereits ganz am Anfang erkannten sie die Möglichkeiten, die ihnen das neue Medium Radio bot. Elisabeth Thommen war die erste Frau am Mikrofon einer Radiostation – noch vor Beromünster! – und versuchte mit ihrer warmherzigen und humorvollen Art, mit Charme und Charisma, die Arbeitswelt der Frauen darzustellen und den Männern die Augen für die Frauenrechte mitsamt dem Wahl- und Stimmrecht zu öffnen.

Zähmung einer Widerspenstigen
Ihre Begabung blieb nicht unbemerkt, sodass sie 1938 zur Leiterin aller Frauensendungen aus dem Studio Zürich, jetzt Radio Beromünster, ernannt wurde. Diese Wahl ging nicht ohne Geräusche und Widerstand aus Bern über die Bühne. Thommen musste sich verpflichten, in den kommenden Jahren am Radio keine politischen Botschaften zu verbreiten. Es war die Zeit der «geistigen Landesverteidigung». Eine wissenschaftliche Studie der beiden Historikerinnen Anita Richner und Nicole Schaad zu diesen Forderungen stand unter dem Titel «Die Zähmung einer Widerspenstigen».

Zwischen ihren Anfängen und der umfangreichen Radioarbeit gelang es Elisabeth Thommen 1929, dass zum ersten Mal in einer Deutschschweizer Zeitung eine Frauenseite erscheinen konnte. Das war in der Basler «National-Zeitung», für die sie diese Seite mehrere Jahre redaktionell betreute. Ferner war sie mehrere Jahre auch für das «Jahrbuch der Schweizer Frau» verantwortlich.

Inzwischen von Jakob Bührer geschieden, lebte sie fortan allein in ihrer Zürcher Wohnung und besuchte gerne das Künstlerkaffee Odeon am Bellevue, oft in Begleitung ihrer Grossnichte Regula. Nach den Kriegsjahren schrieb sie zornige Zeitungsartikel zur Bockigkeit der Politiker, die den Frauen trotz aufopfernder Kriegsjahre, in denen sie sich als treue und arbeitskräftige Schweizerinnen (anstelle der Männer im Militärdienst) erwiesen hatten, weiterhin das Frauenstimmrecht verweigerten.

Ein Stück Radiogeschichte
Ihr Zorn mündete in einer einzigartigen und erfolgreichen Radiosendung: Sie gründete 1947 die Hilfssendung «Von Frau zu Frau» und erschloss damit der Radioarbeit neue Wege: den direkten Kontakt zwischen Hörerinnen/Hörern und den Mitarbeitenden im Studio.

Die Idee war es, Bergbauern und weiteren bedrängten Familien durch gesammelte Güter direkte Hilfe zu leisten. Die Aufrufe erwiesen sich als derart erfolgreich, dass Elisabeth Thommen um 1950 herum eine der populärsten Schweizerinnen war. Fernsehen und Boulevardmedien – mit Ausnahme einiger weit verbreiteter Ringier-Blätter – gab es noch nicht. Nur über das Radio war eine schweizweite Bekanntheit möglich.

1953 wurde sie auf dem Höhepunkt ihrer Popularität pensioniert und ihre Sendung in die Schweizer Berghilfe integriert. Sie musste noch die erste Abstimmung über die Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz erleben (1959) – und das Resultat resigniert und kopfschüttelnd zur Kenntnis nehmen. Immer noch hatte sie aber bis kurz vor ihrem Tod am 24. Juni 1960 ihre monatliche Radiosendung «Was mer so erläbt».

Eine Alice Schwarzer der Schweiz
Die Nachrufe in den Schweizer Zeitungen waren zahlreich und von grösstem Lob gekennzeichnet. Für Hanna Willi in «Wir Brückenbauer» war sie die «fähigste aller Journalistinnen» ihrer Zeit. Sie wird, im Gegensatz zur kühlen, intellektuellen und libertären Iris von Roten, als «Mutter Helvetia des Radios» bezeichnet, während der Autor dieses Porträts sie als eine «frühe Alice Schwarzer der Schweiz» charakterisiert.

Eine erhellende Lektüre sind auch ihre Mundartgedichte. Sie sind teils innig, teils wehmütig-klagend, und immer mit einem kritischen Unterton versehen. Elisabeth Thommen wusste, wie es um die Stellung der Frauen in der Gesellschaft stand. Mit ihrer publizistischen Arbeit in Zeitungen, Zeitschriften, Büchern und am Radio versuchte sie, diesen Zustand aufzubrechen und zu verbessern.

Es war ein immenses Wirken, das hier nur zu einem kleinen Teil dargestellt werden kann. Ihre Verdienste um die Frauenrechte sind gross. Dabei waren ihre Waffen die spitze Feder, ihre einfühlsamen Radioreportagen, gepaart mit ihrer wirkungsvollen Stimme.

Auch wenn sich andere lauter und spektakulärer äusserten und damit stärker wahrgenommen wurden, so sollten wir dennoch die vielen Frauen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht vergessen. Sie exponierten sich weniger, leisteten aber ebenfalls wirksame Arbeit für die Frauenrechte. Dafür wurden sie oft gescholten, gedemütigt und lächerlich gemacht. Wenn Iris von Roten ihrer Zeit weit voraus war, standen viele andere Frauen, allen voran Elisabeth Thommen, tatkräftig mitten in ihrer Zeit. Wir sollten alle diese mutigen Kämpferinnen für die Rechte der Frauen in Vereinen, Verbänden und anderen Organisationen gerade heute, nach erst fünfzigjährigem Frauenstimmrecht, nicht vergessen.

Thomas Schweizer ist ein Baselbieter Autor und Kulturvermittler. In seinen Büchern «Die Tochter des Uhrenmachers» und «Edelfedern» stellt er Leben und Werk von Elisabeth Thommen vor. Rund um den 7. Februar finden in der Schweiz mehrere Online-Feiern zum Jubiläum des Frauenstimmrechts statt. So wirft beispielsweise die Kaserne Basel am Sonntag die Frage auf: «50 Jahre Frauenstimmrecht in der Schweiz – ein Grund zu feiern?» (www.kaserne-basel.ch). Coronabedingt erst für Juni dieses Jahres ist eine gemeinsame Jubiläumsveranstaltung der Kantone Baselland und Basel-Stadt vorgesehen.

«Wie herrlich frech ich schrieb!»

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