«Die Freiheitsstrafe ginge zu weit»
14.01.2021 Baselbiet, Polizei, Rothenfluh, Bezirk SissachKantonsgericht will Urteil gegen Blitzkasten-Sprenger nicht verschärfen
Der junge Mann, der vor gut zwei Jahren eine Radaranlage in Rothenfluh gesprengt hatte, musste sich am Dienstag vor Kantonsgericht verantworten. Die Staatsanwaltschaft forderte eine bedingte Freiheitsstrafe von 15 ...
Kantonsgericht will Urteil gegen Blitzkasten-Sprenger nicht verschärfen
Der junge Mann, der vor gut zwei Jahren eine Radaranlage in Rothenfluh gesprengt hatte, musste sich am Dienstag vor Kantonsgericht verantworten. Die Staatsanwaltschaft forderte eine bedingte Freiheitsstrafe von 15 Monaten.
Sebastian Schanzer
1883: Der bekennende Anarchist Auguste Vaillant wirft im Gebäude des französischen Parlaments in Paris eine selbst gebastelte Bombe auf die Parlamentarier. 50 Personen werden verletzt, der Attentäter sofort festgenommen. Es war die Zeit, als sich europaweit anarchistische Gruppen bildeten, die ihre Ziele teilweise mittels Gewalt und Terror verfolgten. Berühmtestes Opfer: Die Kaiserin Elisabeth von Österreich, auch bekannt als «Sissi», die 1898 in Genf von einem italienischen Anarchisten mittels einer Feile ermordet wurde. Im Jahr nach dem Pariser Anschlag billigte die Bundesversammlung in der Schweiz deshalb eine Ergänzung des schweizerischen Strafrechts, das eine wirksamere Verfolgung anarchistischer Straftaten zuliess – das sogenannte Anarchistengesetz. Mehrere Anarchisten in der Schweiz wurden in den Folgejahren des Landes verwiesen.
Was hat das mit Rothenfluh zu tun? Eigentlich wenig. Trotzdem kam Dieter Eglin, der Präsident der Abteilung Strafrecht am Kantonsgericht, am Dienstag auf dieses Anarchistengesetz zu sprechen. Vor ihm sitzend: Der vom Strafgericht bereits wegen qualifizierter Sachbeschädigung verurteilte junge Mann, der am frühen Morgen des 11. Novembers 2018 eine Radaranlage in Rothenfluh in die Luft sprengte – aus Ärger über «Geldmacherei». Der Oberbaselbieter verwendete dazu eine sogenannte Horror-Knall-Rakete, legal erhältlich im Fachhandel.
Die Baselbieter Staatsanwaltschaft legte gegen das Urteil vom Mai 2020 Berufung ein. Es war ihr zu milde. Der Beschuldigte sei nicht nur wegen Sachbeschädigung, sondern auch wegen Gefährdung durch Sprengstoffe zu verurteilen, forderte der Staatsanwalt. Eine bedingte Freiheitsstrafe von 15 Monaten sei der Tat angemessen. Vor dem Strafgericht kam der Mann vergangenes Jahr noch mit einer bedingten Geldstrafe von 180 Tagessätzen zu 100 Franken und einer Busse von 2000 Franken davon.
Veraltetes Gesetz
Der Staatsanwalt bezog sich beim geforderten Strafmass auf einen Tatbestand aus dem Schweizerischen Strafgesetzbuch: «Wer vorsätzlich und in verbrecherischer Absicht durch Sprengstoffe oder giftige Gase Leib und Leben von Menschen oder fremdes Eigentum in Gefahr bringt, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft», heisst es dort.
Dieser Strafrahmen – und hier kommt der Bezug zu den Anarchisten ins Spiel – stünde heute «vollkommen schräg» in der Landschaft, sagte Gerichtspräsident Eglin. «Allein die Gefährdung von fremdem Eigentum fällt unter den Tatbestand. Und das soll mit mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe sanktioniert werden? Unglaublich.» Die Sprengstofftatbestände im heutigen Strafgesetzbuch müssten unter Beizug des historischen Kontextes gelesen werden. Sie wurden nämlich vom früheren Sprengstoffgesetz von 1924 übernommen, das sich wiederum auf das erwähnte Anarchistengesetz beziehe.
Die Berufung der Staatsanwaltschaft wurde vom Kantonsgericht denn auch abgewiesen, für den Beschuldigten bleibt es bei der Geldstrafe. Den Schadensersatz für den zerstörten «Blechpolizisten» in der Höhe von rund 11 000 Franken hat der Mann im Übrigen bereits bezahlt.
Keine Gemeingefahr
Der Staatsanwalt argumentierte, bereits die Gefährdung eines einzelnen Menschen oder einer bestimmten Sache, wie etwa eines Radars, genüge, um den Tatbestand zu erfüllen. Er bezog sich dabei auf mehrere Bundesgerichtsentscheide. «Tatsache ist: Mit dem Entzünden der Lunte hat der Beschuldigte die Kontrolle über das Geschehen abgegeben. Einzelne Teile des Radars wurden bis zu 30 Meter weit weggesprengt.» Dass es sich beim missbräuchlich verwendeten Feuerwerkskörper um Sprengstoff handelte, war an der Verhandlung unbestritten. «Aber käme es hier zu einem Schuldspruch, müsste jeder Böller im Briefkasten unter Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr stehen», so der Verteidiger. So weit wollten die Richter nicht gehen.
Gerichtspräsident Eglin entgegnete dem Staatsanwalt, man müsse den Tatbestand eingrenzen, angesichts der hohen Strafandrohung von mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe. So müsse der Tat schon eine Gemeingefährlichkeit nachgewiesen werden. Das heisst, von der Explosion muss eine Gefahr für eine nicht zu bestimmende Menge von Menschen oder Gegenständen bestanden haben, nicht aber für einzelne Personen oder Güter. «Dafür ist der vorliegende Fall denkbar ungeeignet», so Eglin. Der Beschuldigte habe einen legal erhältlichen Feuerwerkskörper verwendet, an einem weiten, offenen Ort und zu einer Zeit (3.30 Uhr), zu der in Rothenfluh keine Passanten zu erwarten seien. «Niemand war gefährdet. Ein herannahendes Auto hätte man von Weitem gesehen.»