«Kunst und Kultur geben den Menschen Halt»
20.11.2020 Bezirk Sissach, Tecknau, Gelterkinden, KulturAusgefragt mit Cynthia Coray, Leiterin des «Jugend Theater BL», Tecknau
Im kulturell quasi trockengelegten Oberbaselbiet tritt Mitte Dezember das «Jugend Theater BL» in Gelterkinden auf. Damit scheint es auf ein riesiges Bedürfnis zu treffen, denn bereits sind zwei von drei ...
Ausgefragt mit Cynthia Coray, Leiterin des «Jugend Theater BL», Tecknau
Im kulturell quasi trockengelegten Oberbaselbiet tritt Mitte Dezember das «Jugend Theater BL» in Gelterkinden auf. Damit scheint es auf ein riesiges Bedürfnis zu treffen, denn bereits sind zwei von drei Vorstellungen ausverkauft. Die «Volksstimme» hat sich mit der Leiterin Cynthia Coray über Jugend und Kultur in Zeiten von Corona unterhalten.
Barbara Saladin
Frau Coray, wie ist es für euch, dass in diesen unsicheren Zeiten die Menschen trotz allem offenbar sehr hungrig sind nach Kultur?
Cynthia Coray: Das ist wunderbar. Gerade für die Jugendlichen des Kurses ist es sehr wichtig, dass sie nun zeigen können, was sie einstudiert haben. Im Oberbaselbiet herrscht ja schon in «normalen» Zeiten kein Überangebot an Kultur, aber im Moment finden mit wenigen Ausnahmen überhaupt keine Veranstaltungen statt.
Wie sind denn die Theaterproben in diesem Jahr abgelaufen?
Als der Lockdown im März begann, war klar, dass wir die im Juni geplanten Vorführungen nicht würden durchziehen können. Im Frühling, als wir uns physisch nicht treffen konnten, gaben wir Hausaufgaben und führten Videochats durch. Doch der direkte Austausch fehlte sehr. Die meisten Jugendlichen, die ich kenne, leben stark im Jetzt. Das ist eine unheimliche Kraft und Qualität, um auf der Bühne zu spielen, aber mit Fernunterricht funktioniert das nicht.
Deshalb freuten sich wohl alle sehr, dass die Theatervorstellungen überhaupt durchgeführt werden können?
Ja, das ist genial. Alle Jugendlichen sind voll motiviert. Auch fürs Gruppengefühl bringt es eine neue Qualität. In den vergangenen Wochen dachten wir, dass es nicht klappen würde und wir nicht spielen können. Aber die Auftritte sind nicht alles – auch das gemeinsame Proben ist sehr wichtig. Bei einer Befindlichkeitsrunde fragte ich die Kursteilnehmer kürzlich, ob ihnen denn etwas fehlen würde ohne Auftritt. Da sagte einer: «Nein. Ich komme einfach, weil ich euch alle so lieb habe.» Da schmelze ich dahin und merke gleichzeitig: Ich bin auf dem richtigen Weg. Es geht eben auch ums Innere und darum, dass niemandem etwas peinlich sein muss in meinem Kurs. Im Theater darf man total authentisch sein.
Also ist das Theaterspielen für die Jugendlichen ein wenig wie eine Insel?
Ja, ich denke schon. Und gerade in der jetzigen Zeit, in der ja auch das Sporttraining gestrichen ist und der Tanzkurs und der Nothelferkurs fürs Autofahrenlernen … Wenn diese Theatervorführungen nun stattfinden können, ist das als Botschaft enorm wichtig und tut den Jugendlichen gut. Es ist ein Zeichen, dass man nicht gänzlich gelähmt ist in der momentanen Situation – man kann einen Weg finden.
Wie kamen Sie überhaupt auf die Idee, vor zweieinhalb Jahren ein Jugendtheater im Oberbaselbiet zu gründen?
Ich arbeitete schon zuvor viel mit Jugendlichen, zum Beispiel zum Thema Bewerbung, Körpersprache usw. Mir fiel auf, wie viel Potenzial da pulsiert. Dabei hatte ich immer im Hinterkopf, wie hindernisreich das Theaterspielen für mich selber als Jugendliche gewesen war: Als 17-Jährige machte ich extra die Töffliprüfung, um beim «jungen theater basel» mitspielen zu können und nach der Probe spätabends vom Bahnhof Sissach aus überhaupt wieder nach Hause zu kommen. Später sah ich, wie viel Feuer fürs Theaterspielen auch bei den heutigen Jugendlichen vorhanden ist. Deshalb holte ich quasi das Jugendtheater aufs Land, indem ich das «Jugend Theater BL» gründete. Der lange Weg in die Stadt soll für niemandem mehr ein Hindernis sein. Und weil ich wusste, dass ich die Sache allein nicht stemmen will, holte ich meine damalige Kursleiterin am jungen Theater Basel, Regula Schöni, mit ins Boot.
Von den Jugendlichen zu Ihnen: Wie haben Sie es als schaffende seit vergangenem März durchs Jahr 2020 geschafft?
Ich persönlich erlebte Flutwellen in beide Richtungen, von himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt. Einerseits sprudle ich vor Ideen, von denen ich gerne ein paar umsetzen würde. Doch momentan ist die Situation schwierig, und so spielte ich dieses Jahr immer wieder mit dem Gedanken, dass ich umsatteln und einen anderen Beruf erlernen muss, weil ich allmählich in existenzielle Nöte gerate. Ich muss mein Business aufrechterhalten, damit das Familienbudget nicht zusammenbricht, denn vom Kässeli für die Kulturschaffenden allein wird der Erwerbsausfall bei Weitem nicht gedeckt.
Letzte Frage: Warum ist die systemrelevant?
Weil es ohne Kultur enorm schwierig wäre, unseren Alltag zu bewältigen. Jeden Tag passieren so viele Dinge auf der Welt, wir werden überschwemmt mit Negativnews. Und da ist es die Kultur, die uns ermöglicht, damit überhaupt umzugehen. Zudem ist Kultur schlicht in uns drin. Kultur ist oft «so tun als ob», aber in einem guten Sinn. Stellt euch vor: Wenn ein Baby nicht nachahmen würde und «so tut als ob», würde es liegen bleiben und nie zum selbstständigen Menschen werden. Es würde nichts lernen, weder gehen noch sprechen – und ich glaube ganz fest, dass der Mensch immer und überall lernen will. Lernen ist die Essenz des Lebens. Darum sind Kunst und Kultur so wichtig, da sie Halt geben.
Zur Person
bas. Cynthia Coray, Jahrgang 1976, ist Schauspielerin und seit vielen Jahren in verschiedenen Bereichen theaterpädagogisch tätig. 2018 gründete sie das «Jugend Theater BL», das als Verein organisiert ist. Sie lebt mit ihrer Familie in Tecknau.
Das «Jugend Theater BL» im Marabu
bas. Im «Jugend Theater BL» spielen in dieser Saison elf Jugendliche zwischen etwa 13 und 19 Jahren. Die meisten stammen aus dem Raum Gelterkinden, aber auch aus dem Bezirk Liestal. Normalerweise dauert ein Kurs ein Schuljahr, der aktuelle ist situationsbedingt verlängert, und die Neuen des Jahres 2020/21 wurden integriert. Seit Mitte August proben die Jugendlichen wieder wöchentlich im Marabu, mit Abstand oder Maske. Vom 11. bis 13. Dezember führen sie ihr Stück «Glück und das Andere» im Marabu auf, das gemeinsam geschrieben wurde und entstand.