«Das hat in unserem Rechtsstaat keinen Platz»
11.09.2020 Baselbiet, Justiz, Gemeinden, Bubendorf, Bezirk LiestalAlt-Ständerat und Jurist René Rhinow lobt die Regierung für ihr Einschreiten im Fall Halili
Die Baselbieter Regierung habe im Fall Halili zu Recht eingegriffen, findet der Alt-Ständerat und ehemalige Professor für Staatsrecht, René Rhinow. Eine Beschwerde gegen den Beschluss dürfte ...
Alt-Ständerat und Jurist René Rhinow lobt die Regierung für ihr Einschreiten im Fall Halili
Die Baselbieter Regierung habe im Fall Halili zu Recht eingegriffen, findet der Alt-Ständerat und ehemalige Professor für Staatsrecht, René Rhinow. Eine Beschwerde gegen den Beschluss dürfte vor Kantonsgericht kaum Chancen haben. Rhinow ist zudem überzeugt, die Schweiz müsse endlich grosszügiger einbürgern – der Demokratie zuliebe.
Sebastian Schanzer
Herr Rhinow, die Geschichte um die Einbürgerung von Hamdi Halili begann mit einem Akt der Solidarität durch die Bubendörfer Kirchgemeinde und endete mit dem Wegzug der enttäuschten Familie und einer Rüge des Kantons. Mit welchen Gefühlen verfolgten Sie diesen Verlauf?
René Rhinow: Die Vorgeschichte kenne ich nicht. Es macht mich aber schon betroffen, mit welchen fadenscheinigen Gründen dieses Einbürgerungsgesuch abgewiesen wurde. Es wurden offenbar Gründe aufgeführt, die mit der eigentlichen Integration überhaupt nichts zu tun haben. Dass so etwas in der Schweiz immer noch möglich ist, irritiert mich. Andererseits fand ich es durchaus mutig, dass die Regierung jetzt eingegriffen hat. Das ist nicht selbstverständlich.
Mit ihrer aufsichtsrechtlichen Weisung hat sie in die Kompetenz der Bürgergemeinde eingegriffen. Zu Recht?
Juristisch gesehen, halte ich den Beschluss der Regierung für richtig. Zwei Abstimmungen führten zu keinem rechtskonformen Ergebnis. Eine gültige Begründung konnte die Bürgergemeinde jeweils nicht vorlegen. In solch einem Fall erscheint es mir angebracht, aufsichtsrechtliche Mittel zu ergreifen.
Das Verfahren bei Einbürgerungen ist verwirrend: Ich darf als Bürger zwar abstimmen, aber frei entscheiden darf ich nicht.
Das Grundproblem ist: Es ist immer noch im Bewusstsein vieler Menschen, dass eine Einbürgerung ein Willkürentscheid aus dem hohlen Bauch heraus ist. Mit dem nassen Finger in der Luft darf ich entscheiden: Den will ich und den nicht. So etwas hat in unserem Rechtsstaat keinen Platz. Eine Einbürgerung ist ein wichtiger Entscheid, bei dem es um die grundlegende Rechtsstellung eines Menschen geht. Er hat direkte Konsequenzen für die Rechte und Pflichten dieses Menschen. Solch ein Entscheid und das entsprechende Verfahren müssen rechtsstaatliche Kriterien erfüllen. Es darf nicht zu Diskriminierungen kommen. Die Krux ist: An den Gemeindeversammlungen ist es das Stimmvolk gewohnt, politisch zu entscheiden. Es befindet etwa über den Bau eines neuen Schulhauses, oder wie viel ein solches kosten darf. Solch ein politischer Entscheid ist aber von einem rein rechtlichen wie der Einbürgerung zu unterscheiden. Das fällt vielen schwer. Viele Gemeinden sind deshalb dazu übergegangen, den Einbürgerungsentscheid nicht mehr einer Versammlung zu überlassen. Der Bürger- oder Gemeinderat ist meiner Meinung nach besser dafür geeignet.
Die Forderung, dass anstatt der Versammlung der Bürgerrat oder der Gemeinderat über Einbürgerungen entscheiden soll, ist im Landrat bereits deponiert. Allerdings hat in auch der Bürgerrat keine «gute Falle» gemacht. Er hat angeblich vergessen, dem Traktandum seinen Antrag für die Einbürgerung beizufügen. Und er hat auch nicht erklärt, warum das Kantonsgericht den letzten Entscheid nicht akzeptierte.
Ja, in diesem Fall sieht es zumindest so aus, als ob der Bürgerrat Angst davor hatte, noch einmal mit seinen Überlegungen vor die Bürgerinnen und Bürger zu treten, nachdem sich diese gegen eine Einbürgerung entschieden hatten. Der Bürgerrat hatte die Einbürgerung bei der ersten Versammlung ja befürwortet. Nun hätte er hinstehen und erklären müssen, dass ein allfällig erneuter negativer Bescheid gut begründet werden müsste. Dass er das nicht gemacht hat, ist kein gutes Zeichen.
Bei einer Rückweisung zur neuen Beurteilung könnte der Bürgerrat seine Fehler ausbügeln. Die Regie rung hat den Weg einer aufsichtsrechtlichen Weisung gewählt. Sie argumentiert, die Versammlung habe bereits zweimal kein rechtsgenügliches Ergebnis zustande gebracht. Zudem sei Halili eine dritte Versammlung nicht zuzumuten. Reicht das aus für diese Beschneidung der Kompetenzen?
Ich finde schon, ja. Noch einmal ein Traktandum an einer Versammlung anzusetzen und eine entsprechende Beratung durchzuführen, ginge zu weit – für den Bürgerrat genauso wie für den Einbürgerungswilligen. 2016 war die erste Abstimmung. Jetzt befinden wir uns vier Jahre später. Das ist eine lange, unzumutbare Zeit der Ungewissheit, vor allem für den Betroffenen.
Die Bürgergemeinde hat nun dennoch Beschwerde gegen den Regierungsbeschluss eingereicht. Die Weisung sei nicht umsetzbar, hiess es auf Anfrage. Sehen Sie Schwächen in der Argumentation der Regierung?
Ich kenne diese Beschwerde nicht, deshalb kann ich sie auch nicht beurteilen. Als ich den Entscheid der Regierung gelesen habe, ist mir jedenfalls nichts aufgefallen, wogegen man vorgehen sollte. Vielleicht hat der Bürgerrat das Gefühl, er müsse sich jetzt wehren, um die Vorwürfe nicht auf sich sitzen zu lassen. Aber nach Auffassung des Regierungsrats ist gegen den Aufsichtsentscheid gar kein Rechtsmittel gegeben. Davon bin ich allerdings nicht überzeugt. So oder so sehe ich aber kaum einen Grund, den Entscheid in der Sache zu kippen beziehungsweise eine allfällige Beschwerde gutzuheissen.
Halili wurde unter anderem vorgeworfen, demokratische Entscheide nicht zu respektieren, weil er gegen den ersten abschlägigen Einbürgerungsentscheid von 2016 Beschwerde erhob.
Hier fehlt es offenbar am Grundverständnis eines Rechtsstaats. Wenn man diesen Gedanken weiterführt, hiesse das ja, dass man bei allen Entscheiden, sei es vom Parlament oder vom Volk, ein Rechtsmittel ausschliessen müsste. Denn das sind alles demokratische Entscheide. So funktioniert unser Rechtsstaat aber nicht. Unsere Prozessordnung sieht sogar vor, dass vom Volk beschlossene kantonale Gesetze vor Bundesgericht angefochten werden können.
Immer wieder hört man von Fällen in der Schweiz, bei denen Gemeinde- oder Bürgergemeindeversammlungen wegen eines Entscheids zur Nichteinbürgerung gerügt werden. Was denken Sie, wann fällt die aktuelle Einbürgerungspraxis?
Ich bin kein Prophet. Aber es gibt zwei Grundsatzfragen, über welche die Schweiz in naher Zukunft diskutieren sollte. Erstens: Ist es richtig, dass letztlich ein paar Bürgerinnen und Bürger einer einzelnen Gemeinde über das Schweizer Bürgerrecht entscheiden? Ich meine nein. Dass Bürger eines Dorfs entscheiden sollen, ob jemand in ihrer Gemeinde eingebürgert wird, kann ich gut nachvollziehen. Aber dass bei einer Ablehnung auch das Kantons- und Schweizer Bürgerrecht wegfällt, finde ich nicht richtig.
Und zweitens?
Der Anteil der Stimmberechtigten in unserem Land an der Gesamtbevölkerung nimmt laufend ab. Eine Grundidee der Demokratie ist aber, dass jene, die vom Handeln des Staats betroffen sind, auch mitbestimmen können. Je restriktiver aber die Erteilung des Bürgerrechts gehandhabt wird, desto mehr klafft das Verhältnis auseinander und desto mehr gibt es Fragezeichen hinter unserer Demokratie.
Ist das ein Plädoyer für das Ausländerstimmrecht?
Entweder das Stimmrecht wird vom Bürgerrecht entkoppelt, das heisst, gewisse Kategorien von Ausländern bekommen das Stimmrecht, wie es in einigen Gemeinden und Kantonen bereits der Fall ist. Oder man öffnet den Kreis der Bürgerschaft, ist also grosszügiger bei den Einbürgerungen. Mein Favorit wäre es, das Bürgerrecht auszuweiten, etwa indem man die Anzahl Jahre senkt, die ein Ausländer in der Schweiz beziehungsweise in einer Gemeinde wohnhaft sein muss, um sich einbürgern zu lassen. Ich würde also eher die Einbürgerung erleichtern, als ein separates Ausländerstimmrecht einzuführen. Aber in eine der beiden Richtungen müssen wir gehen, und zwar aus grundsätzlichen demokratischen Erwägungen. Dieser Prozess muss allerdings in erster Linie von unten nach oben verlaufen. Es braucht weitere Kantone und Gemeinden, die eine Vorreiterrolle einnehmen.
Zur Person
ssc. René Rhinow sass während 12 Jahren, von 1987 bis 1999, für das Baselbiet im Ständerat, den er in seinem letzten Amtsjahr auch präsidierte. Neben seiner politischen Karriere als Mitglied der FDP hat sich der heute 77-Jährige auch als Jurist einen Namen gemacht. Von 1982 bis 2006 war er bei der Universität Basel als Professor für Staatsund Verwaltungsrecht tätig. Zuvor präsidierte er das Baselbieter Verwaltungsgericht. Von 2001 bis 2011 war er zudem Präsident des Schweizerischen Roten Kreuzes. Rhinow ist verheiratet, wohnt in Liestal und hat zwei erwachsene Töchter.