«Soziale Leistung muss aufgewertet werden»
28.07.2020 Bezirk Sissach, SissachAndreas Bitterlin
Herr Mäder, es gibt jüngere Menschen, die fordern: Sperrt die durch Corona stärker gefährdeten Alten weg, damit alle andern ohne Einschränkungen leben können. Ist dies das Ende der Solidarität unter den Generationen?
Ueli Mäder: ...
Andreas Bitterlin
Herr Mäder, es gibt jüngere Menschen, die fordern: Sperrt die durch Corona stärker gefährdeten Alten weg, damit alle andern ohne Einschränkungen leben können. Ist dies das Ende der Solidarität unter den Generationen?
Ueli Mäder: Nach einer langen, guten Entwicklung mit der sozialen und solidarischen Einsicht, dass Älterwerden zum Leben gehört, dominiert derzeit leider das finanzgetriebene kurzfristig berechnende Denken. Dazu kommt, dass viele Menschen Mühe haben mit dem eigenen Älterwerden. Diese beiden Faktoren können zu Formen der Diskriminierung führen. Aber es gibt viele besonnene Kräfte, die hierzu Gegensteuer geben. Deshalb gibt es immer noch ein hohes Mass an Generationensolidarität.
Fördert eine Krise wie Corona das von Ihnen kritisch beleuchtete kurzfristige ökonomisierte Denken?
Ja, Krisen haben eine verschärfende Wirkung in der Gesellschaft. Gerade Corona zeigt, dass sich Leute bedrängt fühlen, dass sie Angst haben und in der Angst auch unproduktiv reagieren. Viele verkriechen sich ins Schneckenhaus, andere agieren forsch vorwärts. Krisen verschärfen soziale Brisanzen. Wobei Menschen und Gesellschaften auch lernfähig sind. Auch in früheren Krisensituationen ging die Welt nicht unter, sondern es entwickelten sich neue Kräfte und neue Systeme der sozialen Sicherung auf der Basis von Vereinbarungen und Gesetzen.
Gemäss einer Studie des Schweizer Gewerkschaftsbunds ist die Zunahme der mit dem Coronavirus einhergehenden Arbeitslosigkeit in einzelnen Berufssparten bei den 55- bis 64-Jährigen um mehr als 10- oder 20-mal höher als bei den 40- bis 54-Jährigen. Was geht da bei dieser Diskriminierung der älteren Menschen vor?
Zum Teil ist unsere Gesellschaft blind für den hohen Wert von sozialen Leistungen, den auch ältere Menschen erbringen. Wer kurzsichtig ökonomisiert und finanzielle Nützlichkeiten priorisiert, übergeht viele soziale Aspekte. Dieser finanzgetriebene Hintergrund führte dazu, dass Ü50-Jährige bereits vor Corona Probleme auf dem Arbeitsmarkt hatten und sich die Situation durch Corona verstärkt.
Welchen sozialen Wert bringen ältere Menschen in die Gesellschaft ein?
Es geht darum, Zufriedenheit zu generieren. Menschen, die zufrieden sind, bringen mehr Gelassenheit in die Gesellschaft, sie wenden sich vielleicht mehr kleinen Kindern zu – das sind unschätzbare Werte, um die uns viele ältere Menschen bereichern, und das müsste man stärker in den Vordergrund rücken.
In einem Vortrag haben Sie erläutert, dass Seniorinnen und Senioren nicht nur ein Kostenfaktor sind, sondern auch für wirtschaftliche Werte sorgen. Inwiefern?
Ich kritisiere zwar die Ökonomisierung der Gesellschaft, weise aber dennoch gleichzeitig darauf hin, dass ältere Menschen nicht nur ein Kostenfaktor sind, sondern mit ihren Renten und Konsumausgaben wie Mieten und so weiter auch ökonomisch interessant sind. Meine Kritik an der Ökonomisierung und der gleichzeitige Hinweis auf wirtschaftliche Werte sind eigentlich widersprüchlich. Aber ich realisierte, dass, wenn ich beispielsweise an der Hochschule St. Gallen referiere, die Studierenden bei meinem Hinweis auf den ökonomischen Nutzen die Ohren spitzen. Und so stossen meine Botschaften auf mehr Interesse.
Sie haben zuvor erwähnt, dass sich in früheren Krisen auch neue Kräfte entwickelten. Entnehmen Sie der jetzigen Situation auch eine optimistische Sicht?
Ja. Auch wenn es vereinzelte despektierliche Äusserungen gegenüber Älteren gibt (nicht nur von Jungen), hat Corona dennoch gezeigt, dass wir gesamtgesellschaftlich eine hohe Bereitschaft haben, die Gesundheit in den Vordergrund zu stellen und damit auch ältere Leute zu schützen und wirtschaftliche Einbussen in Kauf zu nehmen. Das ist eine beeindruckende Leistung der Gesellschaft, weil sie damit einhergeht, dass man trotz allem nicht ausschliesslich dem Diktat der Ökonomie folgt. Die Gesamtsituation in der Schweiz ist deshalb trotz allem relativ komfortabel.
Auch Jugendliche leiden unter sozialen Problemen. Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe erwartet einen rasanten Anstieg von Kindern, die auf Unterstützung angewiesen und von Armut betroffen sind. Warum?
Kinder gehören schon jetzt zur Hauptgruppe der Armutsbetroffenen und Sozialhilfe-Abhängigen. Sie sind auch generell von niedrigen Einkommen betroffen. In der Schweiz leben etwa 150 000 sogenannte «working poor», also Erwerbstätige, die dennoch arm sind. Das ist die offizielle Statistik der Schweiz – wenn man aber noch deren Kinder mit berücksichtigt, verdoppelt sich diese Zahl. Also, viele Kinder fallen aus der offiziellen Statistik heraus und erleben «Aus den Augen, aus dem Sinn». Das verstehe ich nicht, da wird ein Bereich der Armut wegdefiniert, Kinder werden übergangen. Und wenn Eltern jetzt arbeitslos werden, verlieren viele Kinder an Selbstwert. Sie entwickeln Schulschwächen. Das beeinträchtigt auch ihre künftigen Erwerbschancen. Und je tiefer das Einkommen ist, desto höher sind die gesundheitlichen Beeinträchtigungen, desto schlechter sind die Wohnbedingungen, desto grösser ist oft auch der innerfamiliäre Stress.
Sie sind emeritierter Soziologie-Professor und analysieren und beurteilen gesellschaftliche Phänomene. Machen Sie das rein wissenschaftlich oder auch persönlich und politisch gefärbt?
Die Soziologie analysiert faktenbasiert, wie die Gesellschaft funktioniert, was sie zusammenhält und auseinandertreibt. Das lässt sich nie objektiv tun. Eigene Sichtweisen und Färbungen spielen mit. Aber die Soziologie hat methodische Zugänge entwickelt, wie sie subjektive Faktoren und eigene Vorannahmen einigermassen kontrollieren kann. Das hilft.
Warum sind Sie politisch links verortet?
Ich kam über das soziale Engagement meiner Eltern früh mit Randständigen in Kontakt. Einzelne fand ich total spannend. Mir schien, deren Fähigkeiten kämen unter gerechteren Umständen besser zum Tragen. Dafür wollte und will ich mich einsetzen: für gleiche Chancen und mehr Freiheiten für alle. Zumal es doch so zufällig ist, wer wo zur Welt kommt.
Sind Sie aus diesem Engagement heraus für ein gesetzlich fixiertes Grundeinkommen?
Ich bin dafür, die Arbeit besser zu verteilen, die unteren Löhne anzuheben und allen eine gesicherte Existenz zu garantieren. Mindestlöhne und fixierte Grundeinkommen gehen in diese Richtung. Ich würde an die bestehenden sozialen Errungenschaften anknüpfen und die Ergänzungsleistungen, die es schon bei der AHV und IV gibt, auf alle Haushalte ausweiten, die zu wenig Einkommen haben.
Wie soll das finanziert werden?
Wenn man Ergänzungsleistungen auf alle Haushalte mit Kindern ausdehnt, würde das kaum 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachen – wenige Milliarden Franken. Aber eine Realisierung würde den Menschen den Rücken stärken; das würde dazu führen, dass die Ausgaben für die Sozialhilfe sinken würden, und die Menschen könnten sich mehr auf die soziale Integration konzentrieren. Wenn die Menschen dadurch mehr Sicherheit haben, können sie sich effizienter verhalten im Arbeitsmarkt. Ich bin mir deshalb nicht sicher, ob diese Ausweitung der Ergänzungsleistung effektiv mehr kosten würde. Aber in der Schweiz ist genügend Geld vorhanden, es hapert mit der Verteilung.
Im Vordergrund des öffentlichen Diskurses stehen aber zum Beispiel die problematischen finanziellen Aussichten der Altersvorsorge. Wie wägen Sie das und Ihre Anliegen gegeneinander ab?
Indem ich die soziodemografische Entwicklung betrachte: Irgendwann kommen die geburtenschwachen Jahrgänge ins Alter. Ab 2035 wirkt sich der sogenannte Pillenknick aus. Im Moment nimmt der Anteil der Älteren mit den geburtenstarken Jahrgängen noch zu, aber das wird sich ab 2035 wieder ändern. Und das wird eine Beruhigung der Diskussionen um die Finanzierung der Altersvorsorge bewirken.
Sie schauen also optimistisch in die Zukunft?
Manchmal frage ich mich, warum ich trotz allem noch so zuversichtlich bin. Es hängt damit zusammen, dass ich so viele Leute wahrnehme, die versuchen, ein gutes Leben zu führen. Und unsere Gesellschaft würde nicht funktionieren ohne das. Deshalb mein Gefühl: Das ist eine Kraft, die in unserer Gesellschaft wirkt. Ich habe den Eindruck, dass das Aufklärerische, die Neugierde der Menschen und der Wille, sozial weiterzukommen, stark sind.
Ihr Werdegang hat in Sissach begonnen, wo Sie aufwuchsen. Haben Sie heute noch Heimatgefühle gegenüber dem Oberbaselbiet?
Sissach ist für mich ein heimatlicher Ort, dem ich mich verbunden fühle. Ich erhielt zwar schon in der zweiten Kindergartenwoche von der Lehrerin eine Tatze und litt unter prügelnden Lehrern. Wir hatten aber auch grosse Freiheiten, und die sportlichen Bande halten bis heute. Ich wandere immer noch öfters über die Fluh, schlendere durchs Dorf und kann mir Sissach gut als Wohnort vorstellen.
Zur Person
abi. Der 1951 in Beinwil am See geborene Ueli Mäder wuchs in Sissach auf. Nach der Handelsmatur und einer Gefängnisstrafe wegen Dienstverweigerung studierte er an der Universität Basel Soziologie und Psychologie. Dann leitete er eine Entwicklungsorganisation, politisierte für die Poch im Grossen Rat Basel-Stadt, lehrte an der Hochschule für Soziale Arbeit und die letzten 15 Jahre als Professor an der Uni Fribourg und an der Universität Basel. Hier war er auch Dekan der Philosophisch-Historischen Fakultät. Seine Schwerpunkte sind die soziale Ungleichheit und Konfliktforschung.
Ueli Mäder ist seit 2016 pensioniert und noch in der Ombudsstelle der Uni Basel tätig. Er spielte mit dem TV Sissach Handball in der Nationalliga B und lebt mit Esther Schwald, die auch aus Sissach kommt, in Rheinfelden. Ihre drei Kinder sind längst ausgeflogen.