Zehn kleine «Meuterlein»
07.05.2020 Bezirk Sissach, SerienHanspeter Gsell
Erstmals auf einer Landkarte erschien der Steinhaufen am 2. Juli 1767. Die HMS Swallow unter dem Kommando von Captain Phillip Carteret kreuzte mehr oder weniger ungemütlich durch die stampfenden Wellen des Südpazifiks, als der Ausguck die Sichtung eines ...
Hanspeter Gsell
Erstmals auf einer Landkarte erschien der Steinhaufen am 2. Juli 1767. Die HMS Swallow unter dem Kommando von Captain Phillip Carteret kreuzte mehr oder weniger ungemütlich durch die stampfenden Wellen des Südpazifiks, als der Ausguck die Sichtung eines «Puddings» meldete.
Der Ausguck – es soll sich um einen 15-jährigen Schiffsjungen namens Robert Pitcairn aus Edinburgh gehandelt haben – kam so zu seiner «eigenen Insel» und kurzfristigem Ruhm. Kurzfristig deshalb, weil er zwei Jahre später zusammen mit Mann, Maus und der HMS Aurora unterging.
Über zwei Monate lang war die «Bounty» auf der Suche nach einer neuen Heimstatt durch die Inselwelten des Pazifiks gesegelt. Man machte Zwischenhalt auf Tonga, den Cook-Inseln und im Osten des Fidschi-Archipels.
Aber entweder fehlte Wasser – ein unabdingbares Muss für eine Besiedlung – oder die bereits anwesenden Ureinwohner wollten den Haufen Meuterer nicht an Land lassen. Manche sollen sogar «bösartig» gewesen sein. Ich kann die Haltung dieser Leutchen gut verstehen.Wer möchte schon plötzlich eine Horde stinkender, bärtiger und ungehobelter Landstreicher im Vorgarten sitzen haben? Sie wohl auch nicht!
«Bounty» wird verbrannt
Es war im Januar 1790, als der Kadett Eduard Young zu Fletcher Christian trat und meldete: «Paradies an Backbord, Mr. Christian!» Fletcher wandte sich langsam um und meinte, mit Tränen in den Augen: «Merken Sie sich meine Worte, Mr. Young: Ob an Backbord das Paradies oder die Hölle liegt, wird allein von uns abhängen.» Als Fletcher zusammen mit Quintal von einem ersten Erkundungsspaziergang auf die «Bounty» zurückkehrte, rief er die Restmannschaft zusammen und meinte: «This island is now our castle.» Frei übersetzt: Diese Insel gehörte bis anhin niemandem, jetzt gehört sie uns.
Am 15. Januar 1790 war es so weit. Nachdem neun Meuterer, sechs polynesische Männer und zwölf Frauen aus Tahiti an Land gegangen waren sowie alles Wertvolle von Bord gebracht worden war, steckte man einige Tage später, am 23. Januar 1790, die «Bounty» in Brand. Kein zufällig vorbeifahrendes Schiff und schon gar nicht die Flotte der englischen Krone auf der Suche nach den Meuterern sollten sie finden können.
Laut unbestätigten Berichten war Matthew Quintal der Zündler. Zuvor hatte er die «Bounty», die noch vor Anker lag, ans Ufer gerammt und alles, was man noch brauchen konnte, daraus entfernt. Nicht alle waren mit deren Abfackeln einverstanden gewesen. Doch Quintal meinte, sie wäre allzu leicht von vorbeifahrenden Schiffen gesichtet worden. Und das hätte dann entweder Strick oder Strang bedeutet. Nachdem er die Ausführungen mit ein paar Handbewegungen um den Hals unterstrichen hatte, waren alle einverstanden.
Noch heute begeht man auf Pitcairn am 23. Januar den «Bounty-Day». Im Lauf des Tages wird ein Modell des Schiffs zu Wasser gelassen und angezündet. Nicht bekannt ist, ob dabei auch «God save the Queen» gesungen wird.
John Adams wird zum Oberhaupt
Es schien, als ob nun für die Meuterer alles gut werden würde. Kein Mensch würde sie hier je finden. Die Insel bot alles, was man zum Leben braucht: Wasser, Holz, Früchte, Gemüse, tropisches Klima. Hatte man das Paradies gefunden?
Die Engländer machten sich daran, ganz Kolonialisten, das fruchtbare Land aufzuteilen. Unter sich natürlich. Die polynesischen Männer, darunter Häuptlinge und Priester, gingen leer aus.Vielmehr wurden sie gezwungen, ab sofort für die Weissen zu arbeiten; sie wurden versklavt. Die einheimischen Frauen teilte man ebenfalls unter sich auf: Von insgesamt zwölf «Vahinés», polynesischen Frauen, verblieben somit noch drei für die sechs Polynesier. Damit war der Schlamassel natürlich programmiert. Die nächsten Jahre hätten Vorlage sein können für die Geschichte von den zehn kleinen «Meuterlein». Bereits im Jahr 1800, zehn Jahre nach der Ankunft der Meuterer auf Pitcairn, war das Spiel praktisch vorbei: Da war es nur noch eins …
Der eine aber, das war der Matrose John Adams. Obwohl er nur über eine bescheidene Schulbildung verfügte, wuchs Adams an der Aufgabe, die ihm nun als Oberhaupt der kleinen Gemeinde zufiel. Er organisierte das tägliche Leben neu und sorgte dafür, dass die Kinder Englisch lesen und schreiben lernten. Er tat dies anhand einer Bibel, die aus der «Bounty» gerettet wurde. Er lehrte die Gemeinschaft ein gottesfürchtiges Leben. Er schaffte es, die ihm anvertraute Kolonie aus der Verwahrlosung zu Tugend und Friedfertigkeit zu führen.
1808 wurde Pitcairn wieder einmal entdeckt. Es war ein amerikanisches Walfangschiff, die «Topaz», die das Geheimnis der kleinen Kolonie am Ende der Welt lüftete. Man wollte auf der Insel Wasser bunkern und stellte erstaunt fest, dass die Insel bewohnt war. Bald wusste auch die britische Regierung von ihrer neusten Kronkolonie. Obwohl der Haftbefehl gegen John Adams immer noch Gültigkeit besass, sah man davon ab, eine Strafexpedition loszuschicken. Man beschloss, die kleine Siedlerkolonie auf ihrer abgeschiedenen Insel in Ruhe zu lassen. John Adams konnte sein Werk fortsetzen und lebte glücklich und zufrieden bis zu seinem Tod 1829 auf Pitcairn. Er wurde 65 Jahre alt.
Bibeln, Geschirr und Waffen
Wie aber war es den Siedlern auf Pitcairn ergangen? Nicht wirklich blendend. Als die Frau von John Williams starb und er sich eine der drei den Polynesiern «gehörenden» Frauen aneignete, eskalierte der Konflikt. Am 20. September 1793 töteten die Polynesier Williams und drei weitere Meuterer, am 3. Oktober brachten sie Fletcher Christian um. Diese Tat zog weitere Racheakte nach sich. Bald darauf waren alle polynesischen Männer tot. 1794 lebten nur noch Young, der inzwischen die Führung übernommen hatte, Adams, Quintal, McCoy, zehn Frauen und deren Kinder.
Der Schotte McCoy hatte früher in einer Destille gearbeitet. Ob aus Wehmut oder aus Durst: Auf Pitcairn begann er, wieder Schnaps zu brennen. Er brannte zu diesem Zweck einen zuckerhaltigen Saft, den er vorher aus den Wurzeln einer Lilienart namens Cordyline terminalis gepresst hatte. Das Wort terminalis – endgültig – hätte ihn vorwarnen sollen. Denn bereits nach kürzester Zeit verfiel er dem Alkohol und soll sich im Vollsuff von den Klippen gestürzt haben.
Auch Quintal hatte sich ergiebig dem Schnaps gewidmet und war deswegen völlig verblödet. Nachdem er gedroht hatte, alle Kinder auf der Insel umzubringen, musste gehandelt werden. Und so soll er im Jahr 1799 von Young und Adams gemeinsam umgebracht worden sein.
Als Edward Young am 25. Dezember 1800 an Asthma starb, blieb John Adams als einziger erwachsener Mann übrig, zusammen mit zehn Polynesierinnen und inzwischen 23 Kindern der Europäer. Die polynesischen Männer hatten keine Nachkommen hinterlassen.
Young hatte kurz vor seinem Tod – er hatte unter schweren Asthma-Attacken gelitten – dem ungebildeten Adams anhand der Schiffsbibel der «Bounty» das Lesen beigebracht. Adams las von diesem Zeitpunkt an täglich ein paar biblische Verse. Allerdings gab es ausser Bibeln nichts anderes zu lesen auf der Insel.
Gleichzeitig begann er ein gottesfürchtiges Leben, verbot den Alkohol und hielt regelmässige Gottesdienste ab. Am 5. März 1829 starb er, als angesehenes Oberhaupt der kleinen Gemeinde, eines natürlichen Todes.
Bibeln gab es genug auf der Insel. Die English Missionary Society, eine englische Missionsgesellschaft, hatte nämlich von der gottlosen Insel gehört und kurzerhand Bibeln und Gesangsbücher senden lassen. Göttliche Speisung vor leiblicher Nahrung! Damit man die Bücher besser verdauen konnte, hatte man der Sendung noch Geschirr, Rasierutensilien und Werkzeuge beigelegt. Und, sollte es bei der Verteilung Streit geben, gleich auch noch Gewehre!
In loser Reihenfolge erscheint in der «Volksstimme» die sechsteilige Serie zu Hanspeter Gsells Reise nach Pitcairn im Frühjahr 2019. Er begibt sich dabei auf die Spuren der Meuterer der HMVA Bounty. Vor 230 Jahren kam es auf dem Segelschiff zu einer verhängnisvollen Meuterei.
Corona auf Pitcairn
vs. Wie dem Autor Hanspeter Gsell per Mail berichtet wird, ist die Insel Pitcairn noch frei von Coronaviren. Die Verantwortlichen wollen aber kein Risiko eingehen: Bis Mitte Mai des kommenden Jahres ist die Insel gänzlich gesperrt. Die Insel war im zweiten Teil der Reportage, erschienen am 21. April, abgebildet und nicht, wie in der Bildlegende angegeben, die Bucht von Matavai.