Schiers – unsere einstige Lehrerschmiede
23.05.2020 Baselbiet, BildungRund 500 Baselbieter absolvierten bis 1966 im Kanton Graubünden das Lehrerseminar (Teil I)
Hunderte von Baselbieter Primarlehrern haben bis 1966 ihre Ausbildung in Schiers absolviert. Warum schickte der Kanton Baselland seine künftigen Lehrer ausgerechnet ins ferne Prättigau zur ...
Rund 500 Baselbieter absolvierten bis 1966 im Kanton Graubünden das Lehrerseminar (Teil I)
Hunderte von Baselbieter Primarlehrern haben bis 1966 ihre Ausbildung in Schiers absolviert. Warum schickte der Kanton Baselland seine künftigen Lehrer ausgerechnet ins ferne Prättigau zur Ausbildung? Unser Mitarbeiter Paul Aenishänslin, ebenfalls ein Altschierser, hat recherchiert und dem ehemaligen Seminar nochmals einen Besuch abgestattet.
Paul Aenishänslin
Das Lehrerseminar Schiers bestand 166 Jahre lang – von 1837 bis 2003, zuletzt als Teil der Evangelischen Mittelschule Schiers, die zu Beginn «Freiwillige Schullehrerbildungs- und Rettungsanstalt» hiess. Hunderte von Baselbieter Primarlehrern haben einst ihre Ausbildung in Schiers absolviert, bis Baselland 1966 ein eigenes Seminar eröffnete.
Der erste Baselbieter, der zur Ausbildung zum Primarlehrer nach Schiers im Prättigau ging, war der Oltinger Achilles Gysin im Jahr 1839. Damals dauerte diese Ausbildung nur gerade zwei Jahre. Nach diesem Pionier sind im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts Hunderte von Baselbietern, vorwiegend männlichen Geschlechts, nach Schiers gegangen, um dort das Evangelische Lehrerseminar zu besuchen, dessen Dauer nach und nach auf drei beziehungsweise vier Jahre verlängert wurde. Die Seminaristen waren in der Regel 16 bis 20 Jahre alt.
Der jetzige Direktor der Evangelischen Mittelschule Schiers (EMS) schätzt, dass es insgesamt rund 500 Baselbieter waren, welche die Lehrerschmiede Schiers durchlaufen haben. Die Frage kann gestellt werden: Warum gerade Schiers, das in direkter Luftlinie von Liestal in südöstlicher Richtung circa 200 Kilometer entfernt ist? Gab es keine geografisch näher liegende Alternative? Auf diese Frage gibt es eine ganze Anzahl von Antworten.
Das Normalste der Welt
Da ich selbst von 1959 bis 1963 das Lehrerseminar in Schiers besucht habe, kann ich berichten, dass zu meiner Zeit als junger Baselbieter «Schiers» das Normalste der Welt war, um Primarlehrer zu werden.Aus meiner Realschulklasse gingen 1959 nicht weniger als fünf gleichzeitig nach Schiers, um sich zum Primarlehrer ausbilden zu lassen. Der Schulpräsident der Evangelischen Lehranstalt Schiers (ELA), wie sie damals noch hiess, war Ernst Zeugin aus dem Baselbiet. Der Kanton Basel-Landschaft unterstützte die ELA mit einem jährlichen Budgetbeitrag aus der Staatskasse. Viele Baselbieter Seminaristen erhielten ein Stipendium des Kantons – gute Leistungen vorausgesetzt.
Von den Schierser Seminaristen stammte damals die Hälfte oder mehr aus dem Baselbiet, die übrigen kamen meist aus Kantonen wie Glarus, St. Gallen, Appenzell und Thurgau – aus Kantonen, die grösstenteils auch noch kein eigenes Lehrerseminar hatten.
Da es an den Baselbieter Schulen viele Primarlehrer gab, die selbst einmal in Schiers zur Ausbildung waren, kam ein doppelter Effekt zum Tragen: Einerseits ermunterten sie Schüler, die selbst Lehrer werden wollten, später einmal nach Schiers ins Lehrerseminar zu gehen. Andererseits halfen sie jungen Schierser Absolventen des Seminars, im Baselbiet ihre erste Stelle zu finden. Die Solidarität unter Altschiersern spielte dann bereits zum ersten Mal eine Rolle.
Wie mir der Wirt eines Restaurants in Schiers kürzlich erklärt hat: «Das Evangelische Lehrerseminar in Schiers war während seines langen Bestehens ein Stück Bündner Entwicklungshilfe an das Baselbiet.» Man kann es auch so sehen. Es ist auch zu berücksichtigen, dass den jungen Baselbietern das Lehrerseminar in Basel nicht offenstand, da dieses bereits damals zur Aufnahme eine bestandene Matura voraussetzte.
Praxisnahe Ausbildung
Indessen empfahl sich Schiers während Jahrzehnten, weil das Seminar einen guten Ruf genoss. Es bot angehenden Lehrerinnen und Lehrern eine gute, praxisnahe Ausbildung, war doch das Seminar mit einer «Musterschule» verbunden: mit Schülern aus dem Dorf Schiers der Unter- und Mittelstufe Primar, wo Seminaristen unter der Leitung eines Didaktik- und Methodiklehrers Probelektionen abhalten konnten. Einer der letzten war Hansheinrich Rütimann (93), der selbst in Schiers das Lehrerseminar besucht hatte (1948–1951), dann sechs Jahre in Bubendorf Primarlehrer war und 1957 nach Schiers berufen wurde.
Es gab auch schon früh – jedoch später als Schiers – Gründungen anderer Lehrerseminare in der Deutschschweiz mit evangelischer Ausrichtung, wie Muristalden (Bern) und Unterstrass (Zürich). Aber zu jenen hatte der Kanton Baselland keine privilegierten Beziehungen wie zu Schiers. So konnten Baselbieter in Schiers selbst am Schluss ihrer Ausbildung die meisten Prüfungen für das Baselbieter Lehrerpatent absolvieren, und nur der praktische Teil – benotete Probelektionen – erfolgte im Baselbiet. Auch konnten längere Praktika bei Lehrern und ihren Schulklassen, die zur Ausbildung gehörten, im Baselbiet absolviert werden. Selbst nachdem in Liestal ab 1966 ein eigenes Seminar bestand, durften noch bis in die 80er-Jahre hinein Absolventen des Lehrerseminars Schiers im Kanton Baselland Praktika machen.
Aber alles hat einmal ein Ende. Das Lehrerseminar Schiers wurde 2003 geschlossen, im Zuge der schweizweiten Akademisierung der Primarlehrerausbildung. Was in der Evangelischen Mittelschule Schiers geblieben ist, sind Vorkurse für Quereinsteiger aus der Berufsbildung für die Pädagogische Hochschule (PH) in Chur, sowie die Fachmaturität Pädagogik, die auch auf die PH in der Bündner Hauptstadt vorbereitet, mit zusammen rund 80 Schülern pro Jahr.
In den 70er-, 80er- und 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts sind nur noch ganz wenige Baselbieterinnen und Baselbieter nach Schiers ins Lehrerseminar gegangen. Der letzte Absolvent aus der Region Basel schloss seine Primarlehrerausbildung in Schiers im Jahr 1998 ab, wie der heutige Direktor der Evangelischen Mittelschule Schiers, der Physik- und Turnlehrer Hans-Andrea Tarnutzer, berichtet.
Gute Erinnerungen
Ich habe mit mehreren Ehemaligen des Lehrerseminars Schiers gesprochen. Zwei von ihnen werden in der «Volksstimme» in einem zweiten Artikel demnächst porträtiert werden. Es sind dies Hanspeter Klaus (87), Ormalingen, und Donatus Strub (81), Liestal, die immer noch lebhafte, aber unterschiedliche Erinnerungen an Schiers haben. Ich konnte auch mit Eduard Belser, Lausen, sprechen, dem früheren Baselbieter Ständerat und Regierungsrat, selbst auch ein Absolvent des Lehrerseminars in Schiers. Dazu kommt meine eigene Schierser Zeit 1959– 1963 im Seminar. Kurz zusammengefasst ergibt sich folgendes Bild: Alle Baselbieter Altschierser haben – mit Nuancen – gute Erinnerungen an ihre Zeit im Prättigau. Sie erinnern sich gerne an einzelne Lehrer, die entweder besonders gut waren oder etwas exzentrisch wirkten.
Alle Absolventen haben die vielen Möglichkeiten des Internatslebens in Schiers geschätzt, auch das reichliche Sport- und Musikangebot. Einen hohen Stellenwert nahm in Schiers für alle die gute Freundschaft unter Schulkameraden ein – es gibt Freundschaften, die noch bis heute halten und teils intensiv gepflegt werden.
Der «Schierser Geist»
Noch ein Wort zum sogenannten «Schierser Geist», der unter Altschiersern gerne beschworen wird. Dieser Ausdruck umschreibt eine nicht zu leugnende Tatsache: Wer einmal in Schiers gewesen ist, fühlt sich mit allen anderen Altschiersern, von denen es Tausende gibt, freundschaftlich verbunden. Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl wird auch im Altschierser-Verein (ASV) mit eigener Website (und grosser Fotogalerie aus der Schierser Zeit jeder Klasse) stark gepflegt. Es ist auch eine Tatsache, dass Altschierser immer wieder namhafte Beiträge an «Schiers» gespendet haben, wie auch evangelische Kirchgemeinden in der Schweiz sowie einzelne Persönlichkeiten, beispielsweise aus Basel, denen das gute Gedeihen der Evangelischen Lehranstalt beziehungsweise Mittelschule Schiers am Herzen lag.
Natürlich ist zu beachten, dass im Laufe der Zeit aus der kleinen «Freiwilligen Lehrerbildungs- und Rettungsanstalt», die durch zehn fortschrittliche, christlich beseelte Bündner, angeführt von Pfarrer Peter Flury, im Jahr 1837 gegründet wurde, später die viel grössere Evangelische Lehranstalt (ELA) beziehungsweise die Evangelische Mittelschule (EMS, ab 1958) herangewachsen ist. Das Lehrerseminar blieb immer relativ klein (mit rund 100 Schülern pro Jahr in vier Klassen), während das Gymnasium (das seit 1903 besteht) jetzt eine der grossen, aber privat gebliebenen regionalen Mittelschulen Graubündens darstellt, mit insgesamt rund 450 Schülerinnen und Schülern.
Es ist immer noch möglich, dass Nichtbündner die Evangelische Mittelschule in Schiers besuchen, aber sie sind die grosse Ausnahme. Auch besteht kein Zwang, protestantisch zu sein (was eigentlich schon früher nicht der Fall, aber die Regel war).
Auch wenn es das Internat seit einigen Jahren nicht mehr gibt, bestehen immer noch Wohnmöglichkeiten auf dem Campus der EMS, allerdings ohne intensive Betreuung, wie Direktor Tarnutzer betont.
Berühmte Absolventen
Erwähnt sei, dass Schiers berühmte Absolventen aufweist. So ist Alberto Giacometti 1915–1919 dort ins Gymnasium gegangen, als protestantischer Bergeller, wobei seine grosse künstlerische Begabung schon damals auffiel. Der Physiknobelpreisträger des Jahres 1987, der Basler Professor Karl Alexander Müller (geboren 1927), hat ebenfalls in Schiers das Gymnasium besucht, wie auch noch viele andere erfolgreiche Wissenschafter, Politiker, Musiker, Unternehmer (wie Klaus Endress aus Reinach).
Was «Schiers» offensichtlich begünstigt hat: Bei jungen Menschen in Ausbildung und Entwicklung wurde ein offener, neugieriger Geist geweckt. In der ungewohnten, fremden Umgebung eines Alpentals wurden die Absolventen fernab des Elternhauses zur Selbstständigkeit erzogen, was zur Pflege der Freundschaft einen ausgezeichneten Nährboden bot. Auch hat «Schiers» bei vielen Absolventen die Bereitschaft geweckt, sich im späteren Leben für die «res publica», das Allgemeinwohl, einzusetzen. Manche Altschierser, gerade Lehrer, haben sich dann später politisch betätigt oder sich stark im Vereinsleben ihrer Gemeinde engagiert, wie es früher von ihnen auch allgemein erwartet wurde.
Auch Hans-Andrea Tarnutzer, der gegenwärtige Direktor der EMS, findet es schade, dass das Lehrerseminar Schiers 2003, im Zuge der schweizweiten Anhebung der Primarlehrerausbildung von der Mittelschule- auf die Hochschulstufe, geschlossen werden musste. Er sagt heute: «Wir haben das sehr bedauert.» Er erinnert auch daran, dass die EMS ursprünglich als Lehrerbildungsanstalt gegründet worden ist, und das Lehrerseminar zur eigentlichen «DNA von Schiers» gehört.
Wie heisst doch das Sprichwort: «Die Zeiten ändern sich, und wir uns mit ihnen» – «Tempora mutantur, et nos in illis». Dies trifft auch auf «Schiers» zu. Das einstige Evangelische Lehrerseminar Schiers gehört der Geschichte an. Doch es lebt in der Erinnerung der vielen Altschierser, gerade auch aus dem Baselbiet, die in den Bündner Bergen ihre Primarlehrerausbildung erhalten haben, noch weiter – öfters so lebhaft, als wäre ihre Schierser Zeit gerade erst gestern gewesen.
Teil 2 folgt.