«Eine E-Mail schreiben kann längst nicht jeder»
08.05.2020 Baselbiet, BildungSP-Landrat und Sek-Lehrer Ernst Schürch über den Lockdown und den Weg hinaus
Sieben Wochen ist es her, als die Baselbieter Lehrpersonen gezwungen waren, innert Kürze einen Fernunterricht aufzubauen. Welche Erfahrungen haben sie bisher gesammelt und was steht ihnen noch bevor? SP-Landrat ...
SP-Landrat und Sek-Lehrer Ernst Schürch über den Lockdown und den Weg hinaus
Sieben Wochen ist es her, als die Baselbieter Lehrpersonen gezwungen waren, innert Kürze einen Fernunterricht aufzubauen. Welche Erfahrungen haben sie bisher gesammelt und was steht ihnen noch bevor? SP-Landrat und Sek-Lehrer Ernst Schürch erzählt aus der Praxis.
Sebastian Schanzer
Herr Schürch, während nunmehr sieben Wochen haben Sie als Lehrer an der Sekundarschule Sissach aus der Ferne unterrichtet. Wie haben Sie diese Zeit persönlich erlebt?
Ernst Schürch: Schwierig war zunächst, dass wir bis zur Medienkonferenz des Bundesrats nicht wussten, was auf uns zukommt. Wir hatten dann nur wenige Tage Zeit, zu reagieren. Etwa die Hälfte meiner Klasse verfügt allerdings nicht über die technischen Mittel, um an digitalem Fernunterricht teilzunehmen. Wir haben deshalb entschieden, alle Schüler jeweils am Montag gestaffelt in Kleinstgruppen an der Schule aufzubieten. Dann kontrollierten wir die erledigten Aufgaben und vergaben neue Aufträge an die Jugendlichen. Digitale Medien haben wir nur zur Klärung von zusätzlichen Fragen genutzt. Erschwerend kam bei uns hinzu, dass ich mit meinem Team in Sissach eine integrative Klasse führe. Die Schüler und Schülerinnen werden normalerweise eng begleitet und zusätzlich mit integrativen Schulungsformen unterstützt. Und in der 9. Klasse haben noch nicht alle Schülerinnen und Schüler eine Lehrstelle. Diese bei der Suche zu begleiten, kann man nicht aus der Ferne bewerkstelligen.
Viele Eltern haben eine anspruchsvolle Zeit hinter sich. Wie haben die Familien aus Ihrer Sicht diese Zeit gemeistert?
Ein Grossteil der Eltern wie auch der Schülerinnen, Schüler, Lehrerinnen und Lehrer hat das hervorragend gemacht. Ich ziehe meinen Hut vor ihnen. Auch wenn es nicht die Aufgabe der Eltern war, die Lehrperson zu ersetzen, gab es wohl trotzdem sehr viele Situationen, in denen sie ihren Kindern mit Rat und Tat beistehen mussten. Kommt hinzu: Wenn Kinder Schwierigkeiten haben, treten diese zu Hause oft viel stärker und unmittelbarer auf als an der Schule. Ich kann mir gut vorstellen, dass Eltern in der Zeit des Fernunterrichts mit ihren Kindern Auseinandersetzungen hatten, die viel heftiger ausfielen als das, was wir in den Schulen erleben. Es gibt aber sicher auch viele schöne Erlebnisse, die Eltern mit ihren Kindern in dieser Zeit gemacht haben.
Gab es an Ihrer Schule auch Fälle, die im Lauf der Zeit auf eine problematische familiäre Situation hinwiesen?
Ab der zweiten Woche hatten wir einzelne Schüler, die darum baten, an der Schule zu arbeiten. Ihnen ist zu Hause aber einfach die Decke auf den Kopf gefallen. Wir konnten ihnen entsprechende Räumlichkeiten zur Verfügung stellen. Bei zwei Schülern weiss ich auch, dass sie jeweils allein zu Hause waren, weil ihre Eltern arbeiten mussten. Sie brauchten hin und wieder einfach zwischenmenschlichen Kontakt.
Manche Lehrpersonen haben in den vergangenen Wochen mehr auf Repetition gesetzt, als neuen Stoff zu vermitteln. Hat diese Zeit Löcher in den Lernfortschritt der Kinder gerissen?
Mir ist vor allem aufgefallen, dass die Heterogenität bei der Leistung viel stärker zum Vorschein gekommen ist, als es beim normalen Unterricht der Fall ist. Wer in der Schule gut arbeitet und Verantwortung übernimmt, tut dies zu Hause erst recht. Andere sind zu Hause an ihre Grenzen gestossen, weil sie es nicht schafften, sich zur Arbeit zu motivieren. Dadurch haben sich bei einzelnen Schülern gewisse Lücken aufgetan.
Sie sitzen für die SP auch im Landrat. Hat Ihnen die Coronakrise bereits politische Handlunfgsfelder im Bildungsbereich aufgezeigt?
Das habe ich zurzeit noch nicht zu Ende gedacht. Bedingt durch Corona gehen wir aber nun sicherlich einen grossen Schritt weiter in Richtung Digitalisierung. Das ist eindeutig. Jeder einzelne Lehrer muss nun für sich verorten, wo er noch Bedarf für Weiterbildung hat. Man müsste in diesem Zusammenhang aber vielleicht auch einen vertieften Blick auf die Lehrpläne und die Stundentafeln richten. Entsprechen sie noch den Anforderungen der Digitalisierung? Im Moment kann ich das noch nicht beurteilen. Wahrscheinlich muss man das Ganze mit ein wenig Distanz betrachten.
Sie sprechen Weiterbildungen beim Lehrpersonal an. Wie fit sind die Baselbieter Lehrer punkto Digitalisierung?
Das ist individuell sehr unterschiedlich. Die angesprochene Heterogenität bei den Schülern ist in Bezug auf die Digitalisierung bei den Lehrern wohl noch grösser. Einige Lehrer und Lehrerinnen müssen sich gewisse Fähigkeiten noch erarbeiten, das ist klar und zu dieser Erkenntnis hat auch der Lockdown geführt. Ich bin aber überzeugt: Diese Fähigkeiten erlernt man am besten nach dem Prinzip «Learning by doing» und der Fernunterricht hat dies bei dem einen oder anderen bestimmt angestossen. Die Anwendungsmöglichkeiten des Internets unterscheiden sich aber auch je nach Fach. Es ist offenkundig, dass der Umgang mit dem Internet in Fächern, bei denen man recherchieren kann, wichtig ist. Wenn ein Schüler in Geschichte etwas zum Zweiten Weltkrieg recherchieren soll, muss er auf den Internetseiten zwischen seriöser Information und Schrott unterscheiden können.
Bei den Jugendlichen, den «Digital Natives», geht man davon aus, dass sie mit der digitalen Technik umgehen können. Hat die Zeit des Fernunterrichts dies bestätigt?
Klar, jeder und jede hat ein Smartphone und weiss, wie man einen Computer benutzt. Was mich aber sehr erstaunt hat: Eine E-Mail mit Anhang schreiben kann noch längst nicht jeder. Im Rahmen der beruflichen Orientierung habe ich stets darauf geachtet, dass die Jugendlichen meine E-Mails beantworten. Ich habe sie im Klassenchat dazu aufgefordert. Das hat am Anfang sehr schlecht funktioniert. Mittlerweile können sie es aber.
Am Montag starten die Schulen nun im Vollklassen-Modus. Stehen Sie hinter diesem Baselbieter Entscheid?
Eine gewisse Skepsis ist natürlich schon da. Vor der Information des Bundesrats, dass die Kinder bis zum Ende der obligatorischen Schulzeit scheinbar kaum das Virus verbreiten oder selbst krank würden, waren wir uns alle ziemlich einig, dass wir mit Halbklassen starten werden. Der Entscheid ist nun gefallen und er hat uns überrascht. Aber wir setzen das um, lamentieren bringt nichts.
Welche Herausforderungen warten auf die Lehrerschaft beim Weg aus dem Lockdown?
Das ist heute schwer abzuschätzen. Wir sammeln derzeit täglich neue Erfahrungen. Klar ist: Es wird nicht einfach. Wir werden beispielsweise einige Lehrpersonen und auch Kinder haben, die nicht an der Schule erscheinen können, weil sie zur Risikogruppe gehören oder mit solch einer Person im gleichen Haushalt wohnen. Für die ausfallenden Lehrpersonen muss Ersatz gefunden werden. Ein anderes Beispiel aus der Praxis: Es gibt die Anweisung, dass sich alle Schüler am Morgen und am Nachmittag jeweils vor der ersten Stunde und nach der grossen Pause die Hände waschen müssen. Wir haben aber nur ein Lavabo. Der Unterricht wird deshalb kürzer werden. Von den 45 Minuten bleiben uns vielleicht noch 35 Minuten zum Arbeiten. Aber das Händewaschen und Distanzhalten wird wohl noch lange zum Schulalltag gehören. Irgendwann werden wir uns auch an das gewöhnt haben.
Schülerinnen und Schüler, die nun wieder in die Klasse kommen, weisen nach der Zeit zu Hause wohl ganz unterschiedliche Lernstände auf. Wie bringen Sie die wieder in ein Boot?
Das ist, glaube ich, keine grosse Herausforderung. Alle Lehrer sind sich bewusst, dass es die homogene Klasse ohnehin nicht gibt. Auch im Normalbetrieb muss man auf die Individuen eingehen. Das wird jetzt ausgeprägter sein.
Dabei sollten sie auch noch 2 Meter Abstand zu den Kindern halten. Ein Ding der Unmöglichkeit?
An den Sekundarschulen können wir das relativ gut meistern, indem wir unsere Schulzimmer entsprechend einrichten. Je kleiner die Schülerzahlen werden, desto schwieriger wird es aber. In der Primarschule sehe ich riesige Herausforderungen. Im Kindergarten kann ich mir das Abstandhalten gar nicht erst vorstellen. Kleinere Kinder haben einen grösseren Bewegungsdrang, können nicht so lange still sitzen. Da kommt man sich automatisch nahe.
Zur Person
ssc. Ernst Schürch ist Sekundarlehrer in Sissach und Präsident der Amtlichen Kantonalkonferenz der Lehrerinnen und Lehrer (AKK). Die Organisation vertritt die Lehrerschaft in pädagogischen und bildungspolitischen Fragen. Sie ist das gesetzlich verankerte Bindeglied zwischen den Lehrkräften und der Bildungs-, Kultur- und Sportdirektion. Ernst Schürch sitzt seit der neuen Legislatur als SP-Mitglied auch im Landrat. Er lebt in Rünenberg.
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