Als 1975 die Rezession übers Land kam
03.04.2020 Bezirk Sissach, Wirtschaft, SissachJohannes Rudolf Gunzenhauser, einstiger Mitbesitzer der JRG, erinnert sich
Die Coronakrise zieht vielleicht bald eine Rezession nach sich. Johannes Rudolf Gunzenhauser, der einstige Aktionär und CEO der Sissacher Metallgiesserei & Armaturenfabrik JRG, nimmt den sich abzeichnenden ...
Johannes Rudolf Gunzenhauser, einstiger Mitbesitzer der JRG, erinnert sich
Die Coronakrise zieht vielleicht bald eine Rezession nach sich. Johannes Rudolf Gunzenhauser, der einstige Aktionär und CEO der Sissacher Metallgiesserei & Armaturenfabrik JRG, nimmt den sich abzeichnenden wirtschaftlichen Abschwung zum Anlass, um auf die grosse Wirtschaftskrise von 1975 aus Sicht der JRG zurückzublicken. Eine Arbeitslosenversicherung gab es damals noch nicht.
Johannes Rudolf Gunzenhauser
Anfang 1975 brachen in der ganzen Schweiz, ja in der ganzen westlichen Welt, plötzlich die Umsätze weg! Man hatte in den vorherigen Jahren in der Schweiz noch 60 000 bis 80 000 Wohnungen jährlich gebaut. Der «Club of Rom» hatte damals unter anderem (fälschlicherweise) prognostiziert, dass es auf der Erde noch für 18 Jahre Kupfer gäbe (das Hauptrohmaterial der JRG).
Wie bei vielen Prognosen wird vieles aus Unwissenheit nicht berücksichtigt oder aus politischen Gründen «vergessen». In diesem Fall wurden nur die damals bekannten Kupferreserven berücksichtigt, unerwähnt blieb aber, dass mehr als 80 Prozent des Kupfers rezykliert wird. So brauchte die JRG für Rotguss und Messingstangen zu 98 Prozent «Altmetall», aber der Rotgusspreis schoss von etwa 3.30 Franken pro Kilogramm auf mehr als 12 Franken! Zum Glück hatten wir eine Kriegs- und Notfallreserve, sodass wir nie für über 7.50 Franken einkaufen mussten, bis dieser Spuk «dank» der Rezession vorüber war. Wir wären pleite gegangen!
In die Rezession schlitterten wir mit offenen Augen hinein. 1974 propagierte Valentin Oehen mit seinen «Republikanern» eine «Ausländer-Plafonierungs-Initiative». An einer Diskussion in Gelterkinden mit ihm sagte ich, dass diese Initiative obsolet wäre, da wir sowieso in eine Rezession kämen und dann die Ausländer «abgebaut» würden! Wie recht ich hatte!
Dann auf einmal stockte die Wirtschaft: Der Umsatz der JRG brach von rund 16 Millionen im Jahr 1974 auf 12 Millionen Franken im Jahr 1975 ein. (Zum Glück hatten wir noch einen Exportauftrag von fast 1 Million Franken!) Im besten Quartal 1974 produzierten wir 250 Tonnen Guss – im schlechtesten Quartal 1975 nur noch 36 Tonnen!
Prognosen von Prof. Kneschaurek
Wir standen vor gewaltigen Problemen: Die Lohnsumme unserer 216 Mitarbeiter machten 1974 52 Prozent des Umsatzes aus. Beim deutlich tieferen Umsatz von 1975 drohte die Lohnsumme auf 70 Prozent des Umsatzes hochzuschnellen!
Das Wichtigste: Die JRG musste überleben! Die einzigen Pluspunkte: Die JRG war anfänglich finanziell (noch) gesund und Material mussten wir fast nicht einkaufen, da dieses auf allen Stufen «dank» des Produktionseinbruchs «herumlag». So konnte dieses für die Produktion noch verwendet werden. Aber die Aussichten (die Prognosen) waren katastrophal. Prof. Kneschaurek, Delegierter des Bundesrats für Konjunkturfragen, sagte: «Die Schweiz ist gebaut! Für die nächsten 10 Jahre liegt die Bauwirtschaft am Boden!»
Also mussten wir mit neuen Artikeln «diversifizieren». Das war das Schlagwort für jeden Industriebetrieb – es wurden Artikel kopiert, ohne die technische Erfahrung und das entsprechende Marktwissen. Bei der JRG hiessen die Ideen und Projekte: Sonnenkollektoren, Energiesparanlagen (mit unserem Mischer), Strassenlampen aus Aluminiumguss, Überfüllsicherungen für Öltanks und Badewannen, Kunden- und Kunstguss und so weiter. Wir verstärkten die Entwicklung mit Konstrukteuren der Arbeitsvorbereitung und den Verkauf mit Kadern aus dem Betrieb.
Ohne Arbeitslosenkasse
Jetzt mussten die Personalkosten reduziert werden. Eine Arbeitslosenkasse gab es damals noch nicht (der Bundesrat schuf dann einige Monate später eine solche per Not-Dekret). Die ältere Generation sperrte sich gegen den Personalabbau, mein Bruder und ich hingegen drängten darauf. Wir mussten die Mitarbeiter orientieren, die Arbeitnehmervertreter mit ins Boot nehmen.
Unser Präsident der Betriebskommission, zugleich Präsident der Gewerkschaft Smuv der Nordwestschweiz, war im Militär. Ich bat den Kompagniekommandanten telefonisch, Paul Graf zu beurlauben. Wir zeigten der Betriebskommission unsere Situation, die diese natürlich schon ahnungsvoll erfasst hatte, und baten um Unterstützung.
Eine Vollversammlung der Mitarbeiter wurde einberufen. Auf einer Leiter stehend und unter Tränen bat unser Onkel, Ernst Gunzenhauser, die Mitarbeiter um Verzeihung für die nötigen Massnahmen: Keine Arbeit mehr am Freitag (was wenig war angesichts des katastrophalen Produktionsrückgangs). Das bedeutete also für jeden 20 Prozent weniger Einkommen!
Zusätzlich die Entlassung von etwa 40 von 216 Mitarbeitern. Grosses Schweigen. Dann stand Paul Graf vor die Versammlung – als Gefreiter in Uniform, in einem sauberen Ruhn: «Ihr habt gehört, was der Chef gesagt hat! Wir müssen in den sauren Apfel beissen und alles daransetzen, dass unsere JRG wieder vorwärtskommt! Will noch jemand etwas sagen? Nein? Also los!»
Das Heikelste waren die Entlassungen. Wir waren ja keine Schreibtischtäter. Wir kannten unsere Leute. Dorf, Kinder, Eltern, Feuerwehr, Sport, Militär. Einige gute Gastarbeiter gingen von selbst und versuchten, zu Hause etwas zu verdienen. Besonders «Micco» hat uns gefehlt! Er kam dann später wieder. Heute arbeiten seine Kinder und Grosskinder in der jetzigen GF+ JRG. Dann gab es Leute mit Vermögen oder Renten (Öl-Soldat Bürgin) und natürlich Härtefälle.
Zu teure Produktion
Mein Bruder Jacques wurde Chef des Projekts Tanküberfüllsicherungen, das die Normenbehörden langsam, aber sicher abwürgten. Ich klopfte, nahezu erfolglos, in der Schweiz fast alle Industriebetriebe wegen Kundenarbeit ab. Dann musste ich in der DDR (ich lernte dort mit staatlich diplomierten Lügnern umzugehen) und im Iran (ein Foto mit Farah Diba ist das Positivste) versuchen, unsere Produkte zu verkaufen. Wir offerierten Preise knapp über den Herstellungskosten (unter den Selbstkosten), doch ich musste lernen, dass auch qualitativ fast vergleichbare Produkte immer noch 30 Prozent billiger als die unsrigen waren. Das kam von unseren hohen Schweizer Löhnen, der kleinen Firma (grosse spezifische Umlagekosten), den kleinen Serien sowie dem geringen Arbeitstempo.
Die neue, junge JRG-Generation hat somit bald gelernt, dass sie zwar in eine tolle Firma eingestiegen ist (ich durfte 1972–1974 die Verdopplung der JRG-Kapazitäten als Projektleiter managen), doch die Rezession hat uns den Schönwetter-Charakter dieser JRG vor Augen geführt.
Wir mussten zum «richtigen» Industriebetrieb werden! Wenn etwas langsam und teuer hergestellt wird, bedeutet dies nicht, dass es «wertvoll» ist. Wir lernten auch, dass «Diversifizierung» ein vornehmes Wort für «Verzettelung» sein kann!
Sanipex
Dann kam die Idee mit Sanipex. Ein Produkt, das unseren Fähigkeiten entsprach, sowohl technisch wie auch marktmässig. Wir konnten dieses Produkt an Fachleute verkaufen, die wir kannten und die uns vertrauten. Am Anfang war dieses Produkt viel zu teuer. Ich hatte mir 1975 beim erfolglosen Verkaufen geschworen: Die Kosten müssen nach unten und nie wieder hochkommen!
Wir hatten damals in der Schweiz die höchsten Löhne und das billigste Kapital, aber auch die besten Berufsleute. Also müssen wir nicht mit Pfoten, sondern mit Kapital (nur die beste Einrichtung ist gut genug) und mit dem Hirn und dem Fleiss der Berufsleute arbeiten. Dann mussten wir noch lernen, in grossen Losen zu arbeiten (optimale «Losgrössen» mit bis 2-Jahres-Bedarfe, Kapital im Lager), um so die Stillstandzeiten zu kürzen und die Qualität zu steigern. Und: Wenn ein Betrieb nicht exportieren kann, wird er auch seinen Heimmarkt nicht verteidigen können!
Dann, nach zwei Jahren: Auf einmal war die Schweiz nicht mehr gebaut! Es ging vorwärts. Es wurden Anlagen und Maschinen gekauft und das Personal bis auf mehr als 400 Mitarbeiter erweitert, aber die Lohnsumme sank trotzdem auf unter 30 Prozent (1991 erreicht). So war es möglich, immer mehr zu exportieren. Beim Verkauf der JRG im Jahr 2008 waren es 58 Prozent Export von 128 Millionen Umsatz!
Auf dem Stein von Marignano steht: «EX CLADE SALUS», das heisst: «Aus der Niederlage das Heil»! Möge auch aus der heutigen Krise die richtigen Schlüsse gezogen und umgesetzt werden, auf dass nachhaltig «Heil» entsteht.
Johannes Rudolf Gunzenhauser
Johannes Rudolf Gunzenhauser (75, Sissach) war von 1972 bis 2010 bei der JRG als Betriebsleiter, Verkaufsleiter und CEO tätig. Er engagierte sich in mehreren nationalen und internationalen Arbeitgeberverbänden im Vorstand, auch als Präsident (zum Beispiel Europäischer Giessereiverband).
Spezielle Verbandsaktivitäten: Energiepolitik, Ausbildung (Fachhochschulrat). Gunzenhauser sagt über sich: «Ich galt in diesen Verbänden als nonkonformistisch, kreativ und tatkräftig.»