Die abgesagte Fasnacht, die sich verselbstständigt hat
03.03.2020 Bezirk Sissach, Fasnacht, Sissach
Christian Horisberger
So viel Polizei wie am Sonntag hat Sissach selten gesehen. Am späten Sonntagvormittag patrouillieren regelmässig Streifenwagen durchs Dorf. Wo immer es nach einem Verstoss gegen das erlassene Fasnachtsverbot riecht, lassen Polizisten ...
Christian Horisberger
So viel Polizei wie am Sonntag hat Sissach selten gesehen. Am späten Sonntagvormittag patrouillieren regelmässig Streifenwagen durchs Dorf. Wo immer es nach einem Verstoss gegen das erlassene Fasnachtsverbot riecht, lassen Polizisten (echte, nicht verkleidete!) nicht lange auf sich warten. Zum Beispiel kurz vor Mittag auf dem «Farnsburg»-Areal. Zwei Cliquen haben ihre Wagen auf dem Parkplatz der Brauerei abgestellt, wenige Kostümierte stehen herum, plaudern. Kein einziges Konfetti wirbelt durch die Luft. Munterkeit kommt nur mit Blick auf das schäumende Bier, das im Schankwagen der Brauerei gezapft wird, auf.
Ein Polizeiauto fährt vor. Zwei Polizisten knöpfen sich die Verantwortlichen für den Wagen und den Zapfhahn vor – freundlich im Ton mit offenkundigem Verständnis für die ausserordentliche Situation, aber klar im Anliegen: Sämtliche Fasnachtsaktivitäten seien verboten, erklären die Beamten. Heimschicken könnten sie jedoch niemanden. Also bitten sie die Fasnächtler stattdessen, ihre Fahrzeuge stehen zu lassen und nicht zu überborden. Ausserdem nehmen sie deren Personalien auf.
«... bis wir weggeschickt werden»
Markus Haubensak, Verwaltungsratspräsident der Brauerei, ist verantwortlich für den Ausschank. Die Polizisten wollen seine Bewilligung sehen. Die braucht er nicht. Er zapft das Bier auf eigenem Grundstück und gratis. Sein Bier darf weiter schäumen.
Die beiden Fasnachtswagen gehören den Büchelsprängern aus dem Diegtertal (Sujet: «Knie») sowie den Schwybogebrünzlern, die ihren Traktor und Wagen von Wenslingen nach Sissach gefahren haben. Die Arbeit in Sujet («Schiinheilig»), Wagen und Kostüme sollte nicht ganz für die Katz’ sein, sagt Cliquenmitglied Cyrill Kunz. Als die Fasnacht abgeblasen worden ist, habe er sofort bei der Brauerei wegen des Standplatzes angefragt; ferner zwei Wagencliquen, ob sie mitziehen würden. Ein zweiter Wagen ist bereits da, die Guggen, die Kunz ebenfalls kontaktiert hat, noch nicht.
Dass die Polizei die Aktion nicht beendet hat, überrascht den Fasnächtler: «Wir wollten eigentlich nur bleiben, bis wir weggeschickt werden», sagt er. Was am Tag weiter geschehen soll, sei nun offen. Keine Vorgaben, keine Termine, keine Pflichten und viel Zeit.
«Keine Ahnung», wird am späteren Nachmittag auch ein Tambour der Wurlitzer-Clique auf die Frage antworten, wie die Fasnachtswoche für ihn und seine Clique nun aussehe. Das gewohnte gemeinsame Abendessen in der Beiz werde die Gruppe wie geplant durchziehen. Und dann? «Vielleicht mit der Familie einige Tage wegfahren oder wieder arbeiten gehen. Alles offen.»
Die Absage der Fasnacht hat alle Aktiven kalt erwischt. Viele Cliquen und Guggen haben sich nach der Hiobsbotschaft zu einer Krisensitzung getroffen, um die drängendsten Fragen zu beantworten: Wie verhalten wir uns an der Fasnacht? Jetzt erst recht? Was passiert mit den Orangen und Blumen? Was mit dem Sujet und den Kostümen? Die Wurlitzer in schneidigen Kampfpiloten-Uniformen beispielsweise spielen den Irrflug der Patrouille Suisse beim Oskar-Bider-Jubiläum in Langenbruck aus. Für sie kommt eine spätere Verwendung aus Aktualitätsgründen nicht infrage.
Das gilt auch für die FGS-Gugge. Deren Mitglieder zeigen am Sonntag in der Begegnungszone ihr aktuelles Kostüm, eine Mischung aus Wildwest und Edelweiss: Die Gugge nimmt damit Bestatter Roger Sutter aufs Korn, der mithilfe der Fernsehsendung «Bauer, ledig, sucht …» auf Brautschau ging.
Ohne Blech und Larven
Ihre Instrumente und Larven hat die FGS-Gugge zu Hause gelassen. «Wir tun, was erlaubt ist und wollen nicht provozieren», kommentiert Trompeter Roman Auf der Mauer. Ebenfalls ohne Blech unterwegs sind die Schlammsuuger, ebenfalls aus Sissach. Musik muss trotzdem sein: Statt zu schränzen singen sie ihre Stücke: «Laa-la-la-laaaaa!».
Die Millennium-Waggis haben redimensioniert: Statt Konfetti von ihrem Jubiläumswagen zu werfen, schieben sie in «zivil» ein mit Mimosen, Rosen und Getränken beladenes Wägelchen durch die Begegnungszone. Ihren fixfertig dekorierten Wagen hätten sie bereits am Samstag wieder abgeräumt, Kostüm und Larve würden nächstes Jahr präsentiert, sagt Millennium-«Breesi» René Trösch. Man hätte das 20-Jährige heuer ohnehin mit einjähriger Verspätung gefeiert. «Jetzt werden es halt zwei Jahre.»
Alle Aktiven halten sich nicht ans Fasnachtsverbot. Hier und dort sind einige schräge Töne zu vernehmen, einmal vom Postplatz, einmal vor dem «Stöpli» oder beim «Syydebändel». Dann setzt sich jeweils ein Polizist in Bewegung, um das spontane Konzert zu unterbinden. Die Behörden versuchen so, grössere Menschenansammlungen zu verhindern. Publikum und Aktive reagieren auf die Stimmungstöter feindselig, jedoch nicht aggressiv. Schimpfworte sind nur vereinzelt zu hören.
Das Beste daraus machen
Die Stimmung im Zentrum ist ausgelassen und sehr friedlich. Konfetti fliegen kaum, Alkohol fliesst dafür reichlich. Alles in allem halten sich die meisten aktiven Fasnächtler ans Verbot und versuchen, aus der Situation das Beste zu machen.
Darum ist auch die Polizei bemüht: An den beiden Enden der Begegnungszone und mittendrin sind jeweils zwei Beamte postiert. Jene am Eingang bitten die Passanten unter Hinweis auf die Bundesverordnung, die Begegnungszone nicht zu betreten. Die Polizisten tun dies im Wissen, dass die Leute sich dann eben einen anderen Weg ins Ortszentrum suchen. Dieses abzuriegeln ist eine Mission impossible. Aber Auftrag ist Auftrag.
Den Polizistinnen und Polizisten scheint bei ihrer Aufgabe nicht wohl zu sein. «Hier kann man nicht gewinnen», sagt einer. Der Blick in die Begegnungszone zeigt, was er damit meint: Bereits um halb zwei befinden sich hier weit mehr als 1000 Personen. Damit ist die kritische Grösse überschritten. Doch ist die Menschenansammlung weder organisiert noch kontrolliert, sondern spontan zustande gekommen. Die Polizei macht keine Anstalten, sie aufzulösen. Man scheint keine Eskalation provozieren zu wollen. «Eine Räumung wäre unverhältnismässig», sagt ein Polizist. Man versuche stattdessen, «den goldenen Mittelweg» zu finden.
Die Menschen sind gekommen, weil sie sich ihre Fasnacht nicht nehmen lassen wollen, aus Trotz, aus Neugier oder nur, um den «Glöggeliwagä» zu kaufen, wie ein Mann, der sich nach einem kurzen Bad in der Menge wieder auf den Heimweg macht. Am Nachmittag herrscht in Sissach stellenweise ein Menschenauflauf wie am regulären Fasnachtssonntag. Besonders gross ist das Gedränge vor dem «Stöpli», dem Sujet der diesjährigen Fasnacht.
«Corona-Impfung» mit Schnaps
Zwischen Hunderten «Zivilisten» sind etliche kostümierte Kleingruppen anzutreffen: Zum Beispiel Häftlinge, deren Heim geschlossen wurde, Bienchen und ihre Imker oder Mönche, die um ihre abgebrannte Kathedrale trauern. Auffallend viele Fasnächtler sind als Ärzte und Krankenschwestern verkleidet. Sie tragen weisse oder gelbe Schutzanzüge, «impfen» Passanten mit einer hochprozentigen Dosis Medizin aus einer – hoffentlich desinfizierten – Spritze.
Das Coronavirus ist allgegenwärtig – aber nur als Sujet. Denn Angst vor einer Ansteckung scheint hier niemand zu haben. Gleichzeitig stösst das Veranstaltungsverbot des Bundes auf Verständnis – das ist am Sonntag oft zu hören. Was für ein Widerspruch! Ein (echter) Arzt, der mit einer Bierdose in der Hand das Treiben geniesst, ist um eine Erklärung bemüht: Dass der Bund versucht, das Coronavirus einzudämmen, scheine den Menschen einzuleuchten.
Dass sie mit ihrer Teilnahme an einer Menschenansammlung der «Corona»-Verbreitung Vorschub leisten könnten, scheine sie jedoch nicht davon abzuhalten. Wahrscheinlich sei, so der Arzt, dass die Menschen primär das Risiko einer schweren Erkrankung abwägen würden und danach handelten.
Je später der Abend, desto gleichgültiger die Gäste: Das gefährliche Virus kümmert in den gestossen vollen Lokalen erst recht niemanden mehr. Erst am Abend wird es den Partymachern schmerzlich bewusst: Weil die Polizei alle Beizen schliessen lässt.