«Gegen das Getöse der Welt»
10.03.2020 Bezirk Sissach, Kultur, SissachBarbara Scheibler-Müllers Gedichte und Kurztexte
jg. Die Frage musste mal fallen: In welchem Sinn ist «Überdacht», der Titel ihres Buchs, zu lesen und zu verstehen? Dachte sie dabei an ein Dach über dem Kopf, zumal sie in einem ihrer Kurztexte schildert, dass eine Frau ...
Barbara Scheibler-Müllers Gedichte und Kurztexte
jg. Die Frage musste mal fallen: In welchem Sinn ist «Überdacht», der Titel ihres Buchs, zu lesen und zu verstehen? Dachte sie dabei an ein Dach über dem Kopf, zumal sie in einem ihrer Kurztexte schildert, dass eine Frau unter einem Dach in der chinesischen Sprache das Zeichen für Frieden sei? Oder meint sie ganz einfach das Verb überdenken, weil sich ihre Texte nicht im Krimi-Stil lesen lassen, sondern immer wieder ein Innehalten und Nachdenken erfordern?
Barbara Scheibler-Müller, die Autorin des Buchs, schmunzelt: «Das können alle interpretieren, wie sie wollen.» Würde sie sagen, was richtig oder falsch sei, würde sie die Magie und die Fantasie zerstören, die zur Lyrik gehören. Die 64-jährige Sissacherin liebt beim Dichten solche Wortspiele und Doppeldeutigkeiten. Das wird einem beim Lesen ihrer Sammlung schnell bewusst. So beginnt ihr Klappentext mit dem Satz: «Ein Klappentext ohne Klappe.» Es flirrt, flimmert und flattert schon mal in einem Gedicht.
Doch sie ist keine Fasnachtsdichterin oder reine Wortjongleuse. Der Inhalt steht über der Form. Im Buch nennt sie auch ihre Vorbilder: Neben Rainer Maria Rilke sind das Hilde Domin und Rose Ausländer, «die mich mit ihrer Sprachkraft und ihren Bildern für das Unsagbare berührt und bewegt haben», wie sie im Vorwort schreibt, nicht ohne davor den Begriff «Vorwort» seziert zu haben. Im Auftakt ihres Buchs stösst man auch auf einen Schlüsselsatz, den sie einst in ihr Tagebuch notiert hat: «Gedichte sind mein Treibstoff.»
Schreiben und Lesen gehören seit jeher zu ihrem Leben. Doch Gedichte verfasst sie erst seit 2013. Damals besuchte sie einen Ausbildungskurs in Poesie- und Bibliotherapie und wurde dabei aufgefordert, ein vierzeiliges Gedicht zu verfassen. «Jessesgott», sei ihre erste Reaktion gewesen. Doch daraus sei schnell eine Leidenschaft entstanden. 2017 publizierte sie «In der Schwebe der Tag», ihre erste Gedichtsammlung, im vergangenen Jahr kam nun mit «Überdacht» die nächste hinzu. Dieses Mal sind die Gedichte angereichert mit Kurztexten, in denen sie ihren Lebensthemen nach- und oft auf einen Kalenderspruch oder ein Zitat eingeht.
Lyrik hat schweren Stand
Die frisch pensionierte Autorin weiss, dass viele einen Bogen um Lyrik machen. Das wurde ihr auch beschieden, als sie ihr erstes Buch der Sissacher Bibliothek übergeben wollte. Lyrik interessiere nicht. Und ihr Angebot, eine Lesung abzuhalten, blieb bis dato unbeantwortet. Dabei geht es ihr nicht primär darum, ihre eigenen Zeilen nach aussen zu tragen, als vielmehr darum, das Interesse an der Dichtkunst zu wecken und anderen aufzuzeigen, wie beglückend Schreiben sein kann.
Deshalb veranstaltet sie mit der Künstlerin Jacqueline Borner in Sissach Kurse, in denen die beiden eng verwandten Ausdrucksdisziplinen Malen und Lyrik miteinander verbunden werden. «Lyrik ist nicht die Kunst der lauten Töne», schreibt sie in ihrem Buch, die Dichtkunst wolle «eine neue Welt schaffen – eine kleine, leise – gegen das Getöse der grossen.» Ihre Waffe ist dabei das Wort. Es müsse passen, treffen, stimmen und, hier wandelt sie sich zur nüchternen Dichterin, metrisch aufgehen.
Die «Edition Unik» hat sich zum Ziel gesetzt, dass sich die Schreibenden in ihren Büchern mit ihrem Leben befassen. Diese Vorgabe erfülle sie, sagt Barbara Scheibler und verweist auf ihren eigenwilligen «Klappentext». Darin schreibt sie: «Dies ist ein Lebenspanorama aus nächster Nähe.» Sie widmet das Buch auch ihren Kindern in der Überzeugung, dass die beiden dereinst das weitergeben, was ihre Mutter berührt, beseelt und beschäftigt. Ihre Pensionierung lieferte ihr den Zeitpunkt, um eine Zwischenbilanz ihres Lebens zu ziehen.
Wie bei der Interpretation des Titels lässt sie auch die Frage offen, wie stark sich in ihrer Sammlung von Gedichten – oft ohne Komma und Punkt und bisweilen ohne Grossschreibung – und Kurztexten das Frausein niederschlägt. Sicher, als Vielleserin bevorzuge sie Autorinnen oder Bücher über Frauen. Und sie ist sicher, dass Frauen eine andere Sicht auf die Welt hätten als Männer. Aber wie stark sich dies im Buch niederschlägt, das müssten die Leserinnen und Leser beantworten.