«Tatsächlich wird ein frischer Wind wehen»
04.02.2020 Baselbiet, Finanzen, Politik, GesellschaftFinanzdirektor Anton Lauber zur Teilrevision des Baselbieter Sozialwesens
Vergangene Woche legte der Baselbieter Finanzdirektor Anton Lauber (CVP) seine Vorschläge für die Teilrevision des Sozialhilfegesetzes vor. Im Interview mit der «Volksstimme» vertieft er die hauptsächlichen ...
Finanzdirektor Anton Lauber zur Teilrevision des Baselbieter Sozialwesens
Vergangene Woche legte der Baselbieter Finanzdirektor Anton Lauber (CVP) seine Vorschläge für die Teilrevision des Sozialhilfegesetzes vor. Im Interview mit der «Volksstimme» vertieft er die hauptsächlichen Überlegungen.
David Thommen
Herr Lauber, Sie haben am vergangenen Mittwoch die Teilrevision des Baselbieter Sozialhilfewesens vorgestellt. Wie werten Sie die bisherigen Reaktionen?
Anton Lauber: Die ersten Reaktionen fielen ganz nach dem Links-Rechts-Schema aus. Das war zu erwarten: Die Vorlage ist komplex und noch niemand hatte wirklich Zeit, um die Vorschläge genau zu überdenken. Ich gehe davon aus, dass nun während des Vernehmlassungsverfahrens die Stossrichtung allen klarer wird. Nämlich, dass wir ein Schwergewicht auf eine rasche Wiedereingliederung der Sozialhilfebezüger in den ersten Arbeitsmarkt erreichen wollen. Wir arbeiten darauf hin, dass aus der Sozialhilfe keine Sozialrente wird.
So richtig begeistert äusserte sich bisher dennoch niemand.
Das habe ich auch nicht unbedingt erwartet. Es ist mir klar, dass man einzelne Aspekte in einem solch umfangreichen Paket immer kritisieren kann. Mir wäre aber wichtig, dass man das Gesamtbild anschaut, denn die Herausforderungen sind sehr gross. Ich möchte ein paar Zahlen nennen: Von 2008 bis 2017 ist die Sozialhilfequote von 2,2 auf 3 Prozent gestiegen, die Kosten sind von 2014 bis 2018 um 23 Prozent angewachsen, und was uns besonders beunruhigt: Die durchschnittliche Bezugsdauer liegt heute bei mehr als vier Jahren. Dass Handlungsbedarf besteht, ist schon alleine statistisch ausgewiesen.
Sozialhilfe ist heute Sache der Gemeinden. Ist Ihre Vorlage ein Stück weit als Kritik an der Arbeit der Gemeinden in der Sozialhilfe zu verstehen?
So möchte ich das nicht sagen. Es ist eine Tatsache, dass das Umfeld für die Wiedereingliederung von Langzeitarbeitslosen härter geworden ist. Die Akademisierung nimmt zu. Primär werden heute gut qualifizierte Arbeitskräfte gesucht, Digitalisierung und Automatisierung schreiten voran. Es gibt dadurch immer weniger niederschwellige Jobs, die für viele Sozialhilfebezüger infrage kommen. Das macht die Arbeit der Sozialhilfebehörden der Gemeinden immer schwieriger. Umgekehrt bedeutet dies auch, dass die betroffenen arbeitslosen Personen immer stärker auf fachkundige Beratung und Begleitung angewiesen sind. Diese Begleitung wollen wir mit dem vorgeschlagenen kantonalen Assessment-Center bieten.
Was nützt eine bessere Beratung und Begleitung, wenn es kaum noch niederschwellige Arbeitsstellen gibt?
Wir stellen einen grossen Informationsbedarf seitens der Langzeitarbeitslosen fest, aber auch einen grossen Ausbildungsbedarf. Im Assessment-Center soll abgeklärt werden, wo die Betroffenen ein Entwicklungspotenzial haben oder wo es Nachholbedarf gibt, damit sie sich besser wieder auf den ersten Arbeitsmarkt vorbereiten können.
Beispiele?
Da gäbe es vieles. Es kann sein, dass die Betroffenen im Umgang mit der Digitalisierung gefördert werden müssen. Oder häufig ist es angezeigt, dass die Sprachkompetenz gesteigert werden muss, damit man wieder einen Job finden und auf eigenen Beinen stehen kann.
Der Kanton will diese Abklärungen im Assessment-Center machen. Die konkreten Massnahmen, also beispielsweise Sprachkurse, müssen danach die Gemeinden alleine bezahlen. Ist es nicht absehbar, dass dies für die eine teure Geschichte werden könnte?
Das wäre zu kurz gegriffen. Jede Person, die dank eines griffigen Assessments den Weg in den ersten Arbeitsmarkt zurückfindet, entlastet am Schluss die Sozialhilfekasse massgeblich. Es ist richtig, dass es für die Gemeinden wegen der besseren Unterstützung der Betroffenen eine Initial-Investition geben kann. Doch diese wird sich bald auszahlen.
Nicht alle Gemeinden haben vermutlich gleich viel Freude an einem solchen Assessment-Center, da sie finden, dass sie heute schon gute Arbeit leisten .
Die Finanzdirektion macht Audits bei den Gemeinden, und wir haben einen Überblick über die Arbeit der Sozialhilfebehörden. Grundsätzlich wird dort tatsächlich gute Arbeit geleistet, gleichwohl sehen wir Optimierungspotenzial. Der Wiedereinstieg in die Arbeitswelt könnte vielen Betroffenen besser erleichtert werden.
Sie wollen jährlich 2,5 Millionen Franken für das Assessment-Center ausgeben. Sind damit genaue Ziele verbunden, wie die Gesamtsituation im Sozialwesen verbessert werden kann?
Numerisch beziffern kann man das nicht. Aber wir wollen, wo immer möglich, verhindern, dass es zum Langzeitbezug kommt. Die ersten beiden Jahre des Sozialhilfebezugs sind entscheidend. In dieser Zeit gelingt die Integration in den ersten Arbeitsmarkt erfahrungsgemäss am besten. Darum soll die Förderung früh beginnen und intensiv sein. Bei Personen, die länger von der Sozialhilfe abhängig sind, wird es erfahrungsgemäss immer schwieriger.
Wie die Haltung der Gemeinden zu Ihrem Vorschlag sein wird, ist derzeit schwer abzuschätzen. Wo spüren Sie eine grössere Beunruhigung: bei den kleinen oder den grossen Gemeinden?
Ich würde diese Unterteilung nicht machen. Summa summarum haben kleine wie grosse Gemeinden ein Interesse daran, dass die finanzielle Belastung durch den Langzeitbezug sinkt. Und ebenfalls müssen alle Gemeinden interessiert sein, dass die Betroffenen die bestmögliche Förderung in Anspruch nehmen können. Wichtig ist, dass die Gemeinden diese Chance nutzen. Denn es ist keine Lösung, die Sozialhilfefälle einfach zu «verwalten».
Machen die Gemeinden bei den Integrationsprogrammen heute noch zu wenig?
Ich nenne eine Zahl: Im Jahr 2019 haben 34 von 86 Gemeinden gegenüber dem Kanton keine Integrationsprogramme abgerechnet. Da gibt es unserer Meinung nach noch Luft nach oben.
Es wird zu viel «verwaltet» und zu wenig gefördert?
Ich will niemandem etwas unterstellen, aber wenn diese Quote verbessert werden kann, ist das ganz bestimmt nicht falsch.
Hängt das nicht damit zusammen, dass solche Integrationsprogramme für die Gemeinden relativ teuer sind?
Das ist so. Aber ich sage es nochmals: Keine oder wenig Integration ist nicht das Ziel der Sozialhilfe. Die Betroffenen sollen dort ja wieder herausfinden. Sie sollen wirtschaftlich eigenständig werden. Wenn wir sehen, dass in grossen Gemeinden ein einzelner Sozialarbeiter 100 zum Teil sehr komplexe Dossiers betreuen muss, dann kann professionelle Hilfe durch den Kanton bestimmt nicht schaden.
Am Schluss wird es so sein, dass das Assessment-Center Integrationskurse empfiehlt, welche die Gemeinden alleine bezahlen müssen. Der Kanton will sich mit der Reform von der 50-Prozent-Kostenbeteiligung für die Integrationsmassnahmen verabschieden.
Die Kantonsverfassung verbietet uns eigentlich diese bisherige Mischfinanzierung. Der Kanton will sich aber nicht einfach aus der Verantwortung stehlen und die bisherigen Ausgaben von rund 2,5 Millionen Franken einsparen, sondern investiert das Geld ja in das Assessment-Center. Damit trennen wir die Finanzströme.
In diesem Licht erscheint es so, als wollten Sie den Gemeinden nun Beine machen.
Die Situation kann insgesamt verbessert werden. Der Anreiz für die Gemeinden soll erhöht werden, die Betroffenen rascher und besser zu unterstützen. Auch die Sozialhilfebezüger werden während der ersten zwei Jahre mit einem höheren Grundbedarf belohnt, wenn der Wille zur Integration sichtbar ist.
Neubezüger sollen hingegen generell schlechter gestellt werden. Ist das nicht unfair?
Bei den Neubezügern ist es so: Wenn jemand seine Mitwirkungspflicht erfüllt und beispielsweise die verlangten Unterlagen rasch einreicht, wird er sehr rasch sogar mehr finanzielle Unterstützung erhalten, als das heute noch der Fall ist. Ich halte es aber für richtig, dass der Staat eine gewisse Anspruchshaltung an den Tag legt, wenn jemand in die Sozialhilfe eintritt. Bereits heute werden übrigens Personen, die ihre Mitwirkungspflicht nicht erfüllen, sanktioniert. Sie erhalten also weniger finanzielle Unterstützung.
Sie wollen gleichzeitig auch Langzeitbezüger schlechter stellen. Wer länger als zwei Jahre in der Sozialhilfe ist, dem wird der Grundbedarf gekürzt .
Der Grundbedarf wird meiner Meinung nach in einem vertretbaren Mass reduziert. Es geht um 49 Franken weniger pro Monat. Eine Einzelperson bekommt 937 Franken pro Monat statt 986 Franken, zuzüglich Miete und Krankenkasse. Mit dem kleinen Betrag, den wir bei den Langzeitbezügern sparen, können wir die vermehrten Bemühungen für eine Integration während der ersten beiden Jahre finanzieren.
Wer es nach zwei Jahren nicht geschafft hat, wird ein Stück weit also «aufgegeben»?
Das kann man so nicht sagen. Aber man muss streng darauf achten, dass die Beträge nicht zu hoch ausfallen. Arbeiten soll sich für grundsätzlich erwerbsfähige Personen in jedem Fall mehr lohnen, als Sozialhilfe zu beziehen.
Neu sollen die Sozialhilfebezüger die Möglichkeit haben, bei ihren Integrationsmassnahmen rechtlich geltend zu machen. Auch die Einstufung in die Bezugsgruppe kann angefochten werden. Wartet eine Prozessflut auf die Gemeinden?
Nein, auch heute ist alles schon anfechtbar. Ich gehe daher nicht davon aus, dass es viele neue Rechtsfälle geben wird. Andererseits soll den Sozialhilfebezügern tatsächlich ein Instrument gegeben werden, mehr Integrationsprogramme von ihrer Gemeinde zu fordern. Die Gemeinde kann einen Antrag nur ablehnen, wenn sie das wirklich schlüssig begründen kann. Ich komme nicht um die Feststellung herum, dass hier tatsächlich ein etwas frischer Wind wehen soll. In meinen Augen muss der Erfolg der Reintegration im Vordergrund stehen und nicht die Angst vor mehr administrativem Aufwand für die Gemeinden. Dieser wird sich abgesehen davon automatisch reduzieren, wenn es weniger Langzeitfälle gibt.
Eine klare Aufforderung an die Gemeinden, mehr zu tun.
Nichtstun ist keine Lösung. Ich habe es erwähnt: Sozialhilfequote, Kosten und Bezugsdauer steigen. Man kann nicht so tun, als gebe es keine Probleme. Diese müssen wir anpacken.
Absehbar ist, dass in der Vernehmlassung von allen Seiten Kritik kommen wird. Gibt es Punkte, bei denen Sie auf keinen Fall bereit sind, nachzugeben?
Wir haben sehr viel nachgedacht, als wir diese Vorlage ausgearbeitet haben. Der Vorschlag ist ein Gesamtbild, das aus vielen Einzelaspekten besteht. Kleine Anpassungen halte ich für möglich, am Ziel darf jedoch nicht gerüttelt werden: Der Fokus muss darauf liegen, dass die Sozialhilfe-Bezugsdauer nicht weiter steigt, sondern sinkt.
Wie sehen Sie die Chance für diese Vorlage vor dem Volk?
Ich möchte das nicht einschätzen. Das Thema ist hoch emotional, das ist klar. Wir haben aber den Auftrag, das Steuergeld effizient einzusetzen. Wir haben heute Anzeichen dafür, dass wir vielleicht nicht ganz so effizient unterwegs sind, wie wir sollten. Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger und Steuerzahlerinnen und -zahler erwarten zurecht von uns, dass wir dieses Problem in den Griff bekommen.
Neue Ansätze gesucht
tho. Vorgesehen ist, in der Baselbieter Sozialhilfe ein Anreizsystem einzuführen: Wer sich aktiv um die Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt bemüht, soll belohnt werden. Wer sich der Integration verweigert, erhält hingegen weniger Geld. Zudem will Anton Lauber ein kantonales Assessment-Center mit 15 Angestellten einführen, wo sich Sozialhilfeempfänger beraten und sich Weiterbildungskurse empfehlen lassen können.
Die Vorschläge stiessen auf ein geteiltes Echo. Die SP lehnte die Revision ab, die bürgerlichen Parteien sprachen von einem «halbvollen Glas» und einem «Schritt in die richtige Richtung» (siehe «Volksstimme» vom vergangenen Donnerstag). So ganz begeistert schien niemand zu sein, auch die Gemeinden nicht, die neu für die Kosten der Integrationsmassnahmen alleine zuständig sein sollen.