«Ritalin sollte eine Notlösung bleiben»
13.02.2020 Bezirk Waldenburg, Reigoldswil«Sougoof» oder «Zappelphilipp» hiessen schwierige Kinder früher. Heute bekommen sie das Etikett «ADHS» verpasst. In ausgeprägten Fällen verschreiben Ärzte Ritalin, das unter das Betäubungsmittelgesetz fällt. Teilweise ginge es jedoch auch ohne die Wunderpille, sagt Dr. med. Ulrike ...
«Sougoof» oder «Zappelphilipp» hiessen schwierige Kinder früher. Heute bekommen sie das Etikett «ADHS» verpasst. In ausgeprägten Fällen verschreiben Ärzte Ritalin, das unter das Betäubungsmittelgesetz fällt. Teilweise ginge es jedoch auch ohne die Wunderpille, sagt Dr. med. Ulrike Güdel.
Nelly Anderegg
Früher nannte man sie «Zappelphilipp» – Kinder mit schier unbändigem Bewegungsdrang, Konzentrationsschwierigkeiten und Unbeherrschtheit. Es gab sie schon immer. Die Diagnose lautet heute Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS. Wieso nehmen die Diagnosen ADHS rapide zu? Haben sich die Kinder verändert oder ist die Gesellschaft so sehr anders geworden? Seit 20 Jahren beschäftigt sich Dr. med. Ulrike Güdel, die in Reigoldswil eine Arztpraxis führt, mit dem Thema. Sie sagt, dass viele motorisch unruhige Jungs – Knaben sind häufiger betroffen als Mädchen – das Etikett ADHS fälschlicherweise verpasst bekommen.
Frau Dr. Güdel, Sie sind Mutter. War Ihr Sohn ein schwieriges Kind?
Ulrike Güdel: Mein Sohn war ein sehr lebhaftes Kind. Heute würde man dazu Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, also ADHS, sagen. Damals bei seiner Geburt 1986 gab es die Diagnose noch nicht. Mir war klar, dass ich lernen muss, mit meinem sehr lebendigen Kind umzugehen.
Wutanfälle, herumschreien, das kleine Geschwister hauen. Wer Kinder erzieht, kennt solche Ausbrüche. Was raten Sie Eltern, wenn die Situation zum Dauerzustand zu werden droht?
Sie sollten genau hinschauen: Gibt es Stress im Umfeld des Kindes? Schläft es genug? Sitzt es lange vor dem Fernseher oder Computer? Ist es Zigarettenqualm ausgesetzt? Hat es genügend Bewegung an der frischen Luft? Wie viel Zucker konsumiert es? Das sind die Basics, welche die Eltern überprüfen sollten. Ansonsten brauchen Kinder Lob, Zuwendung und Konsequenz, das ist die halbe Miete.
Begünstigen Umweltfaktoren ADHS oder liegt es an den Genen?
Ich denke, ADHS ist nicht vererbbar. Wobei ich auch in meiner Praxis immer wieder feststelle, dass hibbelige Eltern auch hibbelige Kinder haben. Allerdings führe ich das auf den Nachahmeffekt zurück. Stress ist ebenfalls ein Faktor. Eltern haben oftmals einen vorgefertigten Lebensplan und da soll ihr Kind gefälligst reinpassen. Es ist schon richtig, dass jede psychiatrische Diagnose auch vom Umfeld abhängig ist. Auf einem Bauernhof kann ein hyperaktives Kind gut zurechtkommen, weil es da seine gestaute Energie sinnvoll loswerden kann. In der Wohnung ist der Bewegungsradius ein anderer.
Wie wirkt Ritalin auf das Schulkind?
Der Wirkstoff Methylphenidat, enthalten in Ritalin, ist der meistverabreichte Wirkstoff bei ADHS. Er verbessert Konzentrationsfähigkeit und Ausdauer.
Deshalb «funktionieren» die Kinder unter dieser Medikation besser in der Schule. Ritalin verursacht allerdings Nebenwirkungen wie Appetitlosigkeit und Durchschlafprobleme. Eine mögliche Spätfolge könnte auch eine Parkinsonerkrankung in der Lebensmitte sein.
Im Land tobt eine Debatte: Wer sein Kind die Psychopille Ritalin schlucken lässt, gilt schnell als Rabenmutter oder -vater. Wer sich gegen die Tablette entscheidet, sagt Ja zu Ärger und Stress in der Schule. Eine schwere Entscheidung für Eltern.
Es ist und bleibt eine Gratwanderung. Ich bin der Meinung, dass es durchaus sinnvoll sein kann, im Einzelfall einen zeitlich begrenzten Versuch mit Ritalin zu machen. Vor allem dann, wenn der Leidensdruck massiv ist und eine rasche Hilfeleistung erfordert. Das Medikament sollte eine Notlösung bleiben. Andere Therapieansätze, welche die Ursache von ADHS behandeln, können zeitgleich erfolgen. So kann das Ritalin später wieder abgesetzt werden.
Kann man der Diagnose ADHS auch etwas Positives abgewinnen?
Ja sicher! Ein ADHS-Kind hat ein sehr lebhaftes Gehirn.Viele sind ausgesprochen kreativ und haben einen wachen Geist. Sie blühen dann auf, wenn sie sich einer Aufgabe widmen können, die ihrem Talent entspricht. Die Geschichte zeigt, dass einige Genies wie Albert Einstein oder Vincent van Gogh ADHS hatten. ADHSler haben eine besondere Art zu sein. Sie denken, fühlen, reagieren und verarbeiten Informationen anders. Hinter jeder Störung liegt eine Begabung.
Mitte Januar machte in Gelterkinden ein 12-jähriger Schüler wegen Medikamentenmissbrauch Schlagzeilen. Er hatte das verschreibungspflichtige Beruhigungsmittel Xanax eingenommen. Wieso wollen sich Jugendliche mit beruhigenden Medikamenten berauschen?
Wir haben alle eine Suchttendenz in uns. Der Rausch ist ein Fluchtversuch aus dem Hamsterrad. In unserer Gesellschaft ist der Gebrauch von Suchtmitteln ein leichter Weg für Jugendliche, ihren Wunsch nach Risiko und Nervenkitzel zu erfüllen. Dass Jugendliche ihre persönlichen Grenzen ausloten, um zu sehen, wie viel sie vertragen, ist ein normaler Prozess und gehört zum Erwachsenwerden dazu.
Können Sie sich erklären, wie sich ein 12-jähriger Junge ein rezeptpflichtiges Medikament wie Xanax beschafft?
In diesem Fall weiss ich es ganz genau. Er hat die Tabletten seinem Vater gemopst. Die Beschaffung reicht sicherlich vom heimischen Apotheken-Kästli bis hin zum Dealer auf dem Schulhof.
Medikamentenmissbrauch ist ein komplexes Phänomen, das nicht zuletzt mehr Erwachsene als Jugendliche betrifft. Geben wir ein schlechtes Vorbild ab?
Leider ja. Erwachsene konsumieren missbräuchlich Medikamente. Es ist eine Strategie, um Ängste, Sorgen, Stress oder Einsamkeit mit Tabletten zu bewältigen. Eine reine Symptombekämpfung – die Ursache bleibt bestehen. Die Grenzen vom Gebrauch zum Missbrauch und zur Abhängigkeit sind fliessend und deshalb nicht einfach zu definieren. Als Erwachsene sollten wir unser Tun und Handeln sorgsamer überprüfen und zu unserem Körper Sorge tragen, denn Kinder und Jugendliche ahmen unser Verhalten nach. In jeglicher Hinsicht.
«‹Schwierige› Kinder?» Vortrag von Dr. med. Ulrike Güdel Donnerstag, 13. Februar, 19 Uhr Eienschulhaus, Ziefen.