«Ein Altern in Würde ist mir sehr wichtig»
17.01.2020 Baselbiet, Ormalingen, GesundheitEveline Plattner Gürtler vernetzt die Gesundheitsplayer in der Region
Der Verein Netzwerk Gesundheit und Soziales Oberbaselbiet hat sich zum Ziel gesetzt, die Zusammenarbeit unter den Fachpersonen im Gesundheits- und Sozialbereich zu fördern. Auf der Wunschliste von Präsidentin Eveline ...
Eveline Plattner Gürtler vernetzt die Gesundheitsplayer in der Region
Der Verein Netzwerk Gesundheit und Soziales Oberbaselbiet hat sich zum Ziel gesetzt, die Zusammenarbeit unter den Fachpersonen im Gesundheits- und Sozialbereich zu fördern. Auf der Wunschliste von Präsidentin Eveline Plattner Gürtler steht überdies eine Beratungsstelle.
Yvonne Zollinger
Frau Plattner Gürtler, Ihr Verein Netzwerk Gesundheit und Soziales Oberbaselbiet vernetzt Fachleute aus dem Gesundheitswesen in der Region. Wie ist die Idee entstanden?
Eveline Plattner Gürtler: Die Berufskollegin Sabine Meier-Ballaman, mein Mann, Christian Gürtler-Plattner, Arzt für Allgemeine Innere Medizin, und ich haben im Berufsalltag täglich mit Menschen mit chronischen Erkrankungen zu tun. 2015 haben wir zu dritt den äusserst erfolgreichen Versuch gemacht, die Hausärzte zu entlasten, indem wir als Pflegefachpersonen jeweils aktiv die Koordination übernommen haben, die aufwendigen Gespräche führten und die wichtigsten Probleme eruierten. Wir haben festgestellt, wie wichtig der Systemüberblick ist, um weiterhelfen zu können. Der Wunsch nach einer bewussteren Zusammenarbeit am Ort wuchs und wir bildeten mit verschiedenen Fachleuten eine Kerngruppe, um ein Netzwerk für verschiedene Berufsgruppen im Gesundheits- und Sozialbereich zu gründen. 2018 konnte der «Verein Netzwerk Gesundheit und Soziales Oberbaselbiet», ein regionales, multiprofessionelles Gesundheitsnetz, gegründet werden. Seither entwickelt es sich stetig. Und schon bald wir die Webseite aufgeschaltet.
Was ist mit der Zusammenarbeit konkret gemeint?
Bei einem Patienten mit Alzheimerdemenz wusste man, dass die Krankheit sehr schnell zum Tod führen würde. Unsere gemeinsame Aufgabe war es, zu überlegen, was die Familie für die verbleibende Zeit brauchen würde.Wie konnte der Mann möglichst lange zu Hause leben? Wer würde die betroffene Familie konkret unterstützen? Es brauchte einen abgestimmten Plan. Dieses Beispiel mit viel Personenaufwand, Ehrenamtlichen sowie Berufsleuten verschiedener Bereiche hat aufgezeigt, wo noch Lücken im System bestehen. Man kann Krisen kreativ lösen, wenn die Beteiligten gut zusammenarbeiten. Die Lösung fiel aber nicht vom Himmel. Es war die gemeinsame Suche und das Finden von Wegen. Eine Lücke stellte die Pflege in der Nacht dar. Organisiert haben wir diese mit dem Roten Kreuz Baselland und Angehörigen aus dem Umfeld. Gemeinsam wurde ein runder Tisch mit Familie und Fachkräften abgehalten. Es wurde geplant, abgesprochen, aufgezeichnet und koordiniert. Der Mann konnte bis zum Schluss daheim bleiben und im Kreise seiner Liebsten sterben.
Statt jeder für sich sollen die Anbieter verschiedener Gesundheits- und Pflegeleistungen zusammenarbeiten?
Ja. Der Verein strebt ein multiprofessionelles Netzwerk von Fachleuten an. Vom Schuhorthopäden über die Physiotherapeutin, die Apothekerin, den Pfarrer, die Lehrerin, die Hausärztin, die Spitex, die Podologin, die Wundexpertin oder die Logopädin bis zum Ergotherapeuten, um nur einige zu nennen. Viele Fachgruppen wissen nicht immer, was andere Fachpersonen anbieten und wer nach Hause zu den Patienten und Patientinnen kommt. Arbeiten wir als Fachpersonen Hand in Hand, sind wir erfolgreicher. Die Aufgabe verteilt sich auf mehrere Schultern und wird tragbarer, machbarer, die Probleme werden lösbarer, die Hilfesuchenden häufig zufriedener.
Was wurde bisher konkret zur Vernetzung der Fachleute unternommen?
Der Verein strebt eine elektronische Plattform zur Verlinkung wertvollen Wissens an. Das Wissen würde somit quasi vernetzt zusammengetragen und zur Verfügung gestellt. Es entstünde in der Nordwestschweiz mehr Überblick im System. Das gesammelte Wissen könnte auch einer Beratungsstelle zugutekommen.
Wir reden jetzt vor allem von der im Alter. Aber der Verein will sich grundsätzlich zu den Themen bezüglich Gesundheit und Soziales vernetzen.
Bereits am Anfang ist die Schule auf uns zugekommen und zeigte Interesse zur Vernetzung, wie auch die Landeskirche Baselland und Mitarbeiter oder Leitungen aus Heimen sowie Spezialärzte. Immer wieder höre ich von Leuten: «Ach, wenn ich nur gewusst hätte, dass es so was gibt.» Wir haben in der Nordwestschweiz viele gute Angebote, sie zu finden erweist sich für Betroffene als nicht ganz einfaches Unterfangen. Mehr System-Überblick würde Abhilfe schaffen.
Sie sind selbst Mutter eines Kindes mit Behinderung. Hätten Sie sich in Krisen gewünscht, leichter die richtige Hilfe zu finden?
Absolut. In Krisensituationen hat man nicht die Zeit, nach der richtigen Lösung zu suchen. Ich kenne das Gefühl von Verzweiflung und Hilflosigkeit in Krisenmomenten. Ich finde, es müsste für jeden Menschen in unterschiedlichen Krisen einfacher werden, entsprechende Hilfe zu finden. Mir geht es darum, dass Menschen in essenziellen Sorgen möglichst schnell von der richtigen Stelle aufgefangen werden. Dabei kann unser Netzwerk helfen. Bezüglich Krisenmanagement könnten wir unser System gemeinsam konstruktiv weiterentwickeln.
Erleben Sie denn, dass die Leute ratlos sind und sich nicht zurechtfinden?
Dass die Leute oft sehr lange suchen, begegnet mir und auch anderen Berufsleuten im Gesundheitswesen häufig. Sie fragen: Wer kann helfen, wo finde ich was, obwohl sie von zahlreichen Fachpersonen umgeben sind und betreut oder gar begleitet werden. Das Gesundheitssystem wird immer komplexer. Wir haben zahlreiche gute Angebote an medizinischer und auch sozialer Versorgung. Um diese zu finden, muss man die Fachbegriffe kennen, wenn man im Internet googelt. Wenn man zum Beispiel nicht weiss, dass Physiotherapie für den Körper zuständig ist und Psychotherapie für die Seele, oder was KJPD heisst, dann weiss man auch nicht, wo man Hilfe findet und leidet womöglich unnötig lange.
Ist nicht der Hausarzt die erste Anlaufstelle in gesundheitlichen Krisensituationen?
Der Hausarzt ist die wichtigste Triage-Stelle. Der Haken daran aber ist, dass heute in Arztpraxen pro Tag 30 bis 40 Patienten betreut werden müssen. Da bleibt wenig Zeit, um sich intensiv auf die Bedürfnisse des Patienten einzulassen. Viele Informationen versickern. Die Gefahr ist, dass niemand koordiniert und der Hilfesuchende sich verzettelt.
Wie sieht Ihre Arbeit als Präsidentin des Vereins Netzwerk Gesundheit und Soziales Oberbaselbiet aus?
Im Moment ist es ein Vorangehen, neue Kontakte knüpfen und bereits bestehende erhalten, um gemeinsame Ideen und Schritte in die Zukunft zu machen. Vieles ist noch eine Vision. Aber das Netzwerk wird langsam greifbar.
2019 wurde kantonsweit eine Bevölkerungsbefragung im Rahmen des Projekts «Inspire» unter Menschen über 75 Jahren durchgeführt. Wie schätzen ältere Menschen ihre Situation ein?
Die Mehrheit ist selbstständig, mobil, aktiv und mit dem Leben zufrieden. Lücken bei der Betreuung zeigen sich erst, wenn sie gebrechlicher und immobiler werden. Das Projekt «Inspire» denkt das an, was wir in unserer Hausarztpraxis ausprobiert haben: Mehr Koordination im System im Rahmen der Umsetzung des Alterspflegegesetzes.
Sie halten eine Beratungsstelle für sinnvoll. Würde Ihr Verein eine solche betreiben?
Nein. Die Beratungsstelle müsste von den Gemeinden eingerichtet werden und in Abstimmung mit den bereits existierenden Stellen wie Pro Senectute, Rotes Kreuz, Infostelle Palliative Care BL, Krebsliga und anderen. Wir als Fachpersonen könnten unseren Beitrag leisten, indem wir aus allen Bereichen mithelfen und zum Beispiel aufzeigen, wo welche Hilfe geholt werden kann. Dieses Wissen liesse sich auch elektronisch darstellen und auf einer neuen, gemeinsam erstellten Plattform verlinken. Wir Fachkräfte könnten aufzeigen, wo es Lücken gibt, die geschlossen werden müssten, und mit den Beratungsstellen zusammenarbeiten.
Wo gibt es Lücken?
Die Spitex bietet zum Beispiel noch nicht überall eine Nachtwache an. In einzelnen Fällen ist das eine Sorge. Es stellt sich grundsätzlich die Frage, bis wann jemand daheim leben kann und ob es wirklich für eine ganze Region eine Nachtwache braucht. Die Menschen haben verschiedene Bedürfnisse und die Situationen müssen individuell angeschaut werden. Dass immer wieder Menschen in komplexen Situationen in Lücken hängen bleiben, beschäftigt viele Fachpersonen. Die Frage ist: Wie füllen wir diese Lücken?
Und die Beratungsstelle oder das Krisentelefon würde das Anliegen der Hilfesuchenden ganzheitlich sehen?
Ja. Davon gehe ich aus, wenn man die Beratung individuell angehen würde. Das kostet Geld, spart aber längerfristig, wie ich denke, dank Koordination. Eine Krise betrifft fast immer das ganze Familiensystem. Wenn betagte Eltern erkranken, hat das Auswirkungen auf die Kinder, Freunde, Angehörige. Wenn die Mutter pflegebedürftig wird oder an Demenz erkrankt, ist die ganze Familie betroffen. Also braucht es neben der konkreten Beratung für die Erkrankten oder Pflegebedürftigen auch einen Hinweis auf Hilfe und Unterstützung für die Angehörigen.
Was liegt Ihnen im Zusammenhang mit älteren Menschen am Herzen?
Das Respektieren der Würde des Menschen im Alter ist mir persönlich und als Pflegefachfrau HF sehr wichtig. Für mich ist der Mensch auch im letzten Lebensabschnitt wertvoll. Alte Menschen sollten nicht unter dem Fachkräftemangel und dem Mangel an Ressourcen leiden. Wir müssen sie auffangen, einbetten. Das ist eine Haltung, die wir in unserer Region pflegen sollten, damit sich ältere und gebrechliche Menschen in unserer Gesellschaft wertgeschätzt und professionell beraten, begleitet und gepflegt fühlen können. Das ist mein Herzenswunsch.
Zur Person
yzo. Eveline Plattner Gürtler, 49, ist Präsidentin des 2018 gegründeten Vereins Netzwerk Gesundheit und Soziales Oberbaselbiet. Sie arbeitet als freiberufliche Pflegefachfrau HF, gelernte Intensivpflegefachfrau, Wundexpertin SAfW, Wund-Stoma-Kontinenz-Beraterin. Plattner Gürtler ist verheiratet, Mutter von vier Kindern und wohnt in Ormalingen.