Frühfranzösisch soll keine heilige Kuh sein
17.12.2019 Baselbiet, Bildung, PolitikLehrerverein weist auf Überforderung der Schulkinder hin
Mehr Inhalte und mehr Verantwortung für immer jüngere Kinder: Der Präsident des Lehrervereins Baselland, Roger von Wartburg, weist auf Missstände im heutigen Schulsystem hin und nimmt dabei insbesondere die Politik in die ...
Lehrerverein weist auf Überforderung der Schulkinder hin
Mehr Inhalte und mehr Verantwortung für immer jüngere Kinder: Der Präsident des Lehrervereins Baselland, Roger von Wartburg, weist auf Missstände im heutigen Schulsystem hin und nimmt dabei insbesondere die Politik in die Verantwortung.
Sebastian Schanzer
Die im Mai veröffentlichten Ergebnisse einer Überprüfung der schulischen Grundkompetenzen (ÜGK) haben Bildungspolitiker und Lehrpersonal gleichermassen alarmiert: In den Fächern Französisch und Mathematik schneiden Baselbieter Schülerinnen und Schüler im nationalen Vergleich weit unter dem Durchschnitt ab. Im Leseverständnis Französisch bildet das Baselbiet sogar das Schlusslicht aller Kantone mit Französisch als erster Fremdsprache. Warum ist das so und was ist dagegen zu unternehmen? Die Antworten der Baselbieter Bildungsdirektorin Monica Gschwind stehen noch aus, einen Zwischenbericht kündigte sie auf Ende Jahr an.
Diesem Bericht kommt nun der Lehrerinnen- und Lehrerverein Baselland (LVB) zumindest bezüglich Ursachen mit einer umfassenden Auslegeordnung zum «ÜGK-Fiasko» zuvor. In der neuen Ausgabe des Vereinsmagazins stellt Präsident Roger von Wartburg die enttäuschenden Resultate in den Zusammenhang mit «widersprüchlichen politischen Entscheiden» und «fragwürdigen schulischen Entwicklungen» der vergangenen 15 Jahre – ohne dabei ein «triviales Ursache-Wirkungs-Modell» bemühen zu wollen, wie er im Bericht betont.
Als «womöglich schlicht unsinnig» bezeichnet von Wartburg in seinem Beitrag etwa die Einführung zweier Fremdsprachen auf der Primarstufe. Seit dem Schuljahr 2012/13 wird in den Passepartout-Kantonen und somit auch im Baselbiet ab der dritten Klasse Französisch und ab der fünften Klasse Englisch gelehrt. Französisch sollte von muttersprachlichen Lehrpersonen in verschiedenen Fächern vermittelt werden, so der ursprüngliche Gedanke. Der Glaube der Politik, genügend geeignete Lehrkräfte dafür rekrutieren zu können, sei allerdings «naiv und utopisch» gewesen. Die Schwierigkeiten bei der Rekrutierung schleppe das Schulsystem bis heute ungelöst mit sich herum, so von Wartburg. Er fordert, das «Modell 3/5» dürfe bei einem grundsätzlichen Nachdenken über den Fremdsprachenunterricht an der Volksschule «keine heilige Kuh» sein.
Überforderte Kinder und Lehrer
Zudem kritisiert der LVB-Präsident eine zunehmende Überforderung der Primarschulkinder, die sich auf die Devise der Bildungspolitiker «Je früher, desto besser» zurückführen liesse. Angefangen bei der Wahl des 31. Juli als Stichtag zur Einschulung, die dazu führe, dass Kinder im Kindergarten teilweise noch mit Windeln und ohne die erforderliche sozialemotionale Reife ins Schulsystem eintreten.
Sodann sei im Lehrplan 21 eine Fülle von Themen auf der Primarstufe festgeschrieben, die Kinder wie auch Lehrkräfte überfordere. «Wie sollen die Primarlehrpersonen es fertigbringen, dieses riesige Kontingent an Inhalten und damit verbundenen Fähigkeiten und Fertigkeiten in ihrem Unterricht unterzubringen, ohne das Ganze zu einem atemlosen Gehetze ohne Zeit und Musse für Festigung und Verankerung verkommen zu lassen?», fragt von Wartburg.
Er erkennt im derzeitigen Unterricht auf Primarstufe auch eine wachsende Tendenz, die Kinder möglichst früh durch selbstorganisiertes Lernen zur Selbstständigkeit anzuhalten, ohne dass dabei auf den jeweiligen Entwicklungsstand achtgegeben werde. Und für ausgesprochen schädlich hält er eine grassierende «Selbstreflexions-Manie»: Bis in den Kindergarten seien Kinder immer häufiger dazu aufgefordert, sich selbst einzuschätzen, zu beurteilen oder eigene Lernziele für die Zukunft zu formulieren. Diese «Selbstoptimierung» sei nicht kindgerecht und signalisiere den Kindern permanent ihr «Nichtgenügen».
Didaktiker ohne Erfahrung
Was sich beim Fremdsprachenunterricht zeige, sei ferner auch bei der integrativen Schulung zu bemerken: «Obwohl von vornherein klar war, dass es für eine flächendeckende Umsetzung der Integrativen Schulung nicht annähernd genügend ausgebildete Heilpädagoginnen und Heilpädagogen gibt, wurde sie dennoch beschlossen und in Kraft gesetzt», schreibt von Wartburg. Unzählige Stellen im Förderbereich könnten folglich gar nicht oder nicht adäquat besetzt werden – auf Kosten der betroffenen Kinder und sehr oft auch zulasten der Regellehrpersonen. In einer 2017 durchgeführten Umfrage unter den LVB-Mitgliedern der Primarstufe gaben fast 80 Prozent der Teilnehmenden an, ihre Beanspruchung durch verhaltensauffällige und sehr lernschwache Kinder gehe zulasten der Förderung der Kinder ohne spezielle Bedürfnisse.
Bei den Ausbildungsstätten des Lehrpersonals, den Pädagogischen Hochschulen, kritisiert von Wartburg insbesondere den fehlenden berufspraktischen Hintergrund von Dozierenden. Der Didaktiker mit eigener Unterrichtserfahrung sei bald ausgestorben, weil die hohen Anforderungen an die wissenschaftliche Arbeit eine begleitende Tätigkeit als Lehrkraft verunmöglichten. Das sei ein klarer Qualitätsverlust im Vergleich zur früheren Lehrerausbildung.
Die Pädagogischen Hochschulen seien allerdings selbst der Widersprüchlichkeit politischer Entscheide ausgeliefert: In das Bachelor-Studium zur Primarlehrperson müssten immer mehr Inhalte aufgenommen werden, gleichzeitig sei eine Verlängerung zum Masterstudium aber politisch nicht gewollt.