«Die Kirche wird überleben – mit Veränderungen»
28.12.2019 Baselbiet, Kirche, Bezirk LiestalMartin Stingelin war zehn Jahre lang Kirchenratspräsident
Er hat während rund zehn Jahren die Geschicke der Reformierten Landeskirche Baselland geleitet. Nun gibt Martin Stingelin auf Anfang Jahr sein Amt an Nachfolger Christoph Herrmann weiter.
Elmar ...
Martin Stingelin war zehn Jahre lang Kirchenratspräsident
Er hat während rund zehn Jahren die Geschicke der Reformierten Landeskirche Baselland geleitet. Nun gibt Martin Stingelin auf Anfang Jahr sein Amt an Nachfolger Christoph Herrmann weiter.
Elmar Gächter
Herr Stingelin, nachträglich herzlichen Glückwunsch zum Ehrendoktor der Universität Basel. Was bedeutet Ihnen diese Ehrung?
Sie war eine grosse Überraschung und hat mich sehr gefreut. Anscheinend machen wir in der Reformierten Kirche Baselland vieles gut. Ich sage bewusst «wir», weil ich diese Auszeichnung ohne die weiteren Mitarbeitenden und die anderen Mitglieder des Kirchenrats nicht bekommen hätte.
Sie geben Ihr Präsidium des nrats Ende Jahr nach zehn Jahren Amtszeit weiter. Wie hat sich die Kirche in dieser Zeit verändert?
Nach meiner Einschätzung hat die Verbundenheit mit der Kirche abgenommen, dies zeigt sich auch am Rückgang der Mitgliederzahlen. Die Kirche muss sich vermehrt erklären, muss offenlegen, was sie eigentlich macht und worin ihre Leistungen bestehen. Aber dies ist nicht nur in unserer Kirche und im Baselbiet so, sondern – im Gegensatz zu anderen Kontinenten – in ganz Westeuropa zu beobachten. Eine flächendeckende Kirche ist in einer liberalen Gesellschaft eine Illusion. Man kann Religion und Glauben nicht mehr verordnen. Auf der anderen Seite konnten wir trotz finanzieller Probleme, vor allem wegen der Nachzahlungen in die Pensionskasse, unsere Leistungen im sozialen Bereich weitgehend aufrechterhalten. Und nicht zuletzt sind Kantonalkirche und Kirchgemeinden näher zusammengerückt.
Wie hat die Kantonalkirche auf diese Veränderungen reagiert?
Mir und dem ganzen Kirchenrat war von Anfang an klar, dass es Veränderungen braucht. Mit der Visitation, die gemäss Verfassung in einem gewissen Rhythmus durchgeführt werden muss, wollten wir wissen, wo der Schuh drückt, erfahren, was die Kirche wirklich braucht. Wir haben in diesem Prozess alle Kirchgemeinden von Anfang an ins Boot geholt. Der Kirchenrat hat sich dabei bewusst inhaltlich stark zurückgehalten und war nicht in der entsprechenden Kommission vertreten. Die Visitation hat in einen Bericht mit zehn Handlungsempfehlungen an die Kantonalkirche gemündet, durchaus auch «knackigen».
Welche Handlungsempfehlungen haben Sie am meisten überrascht?
Mit Ausnahme der Bildung freier Kirchgemeinden eigentlich wenige. Diese wird jedoch sicherlich noch zu diskutieren geben. Sie bedeutet, dass sich Mitglieder unserer Kirche ohne Ortsgebundenheit zu einer neuen Kirchgemeinde zusammentun können, mit den gleichen Rechten und Pflichten wie in einer traditionellen Kirchgemeinde, also auch mit eigenem Pfarramt. Weniger überrascht hat mich der Wunsch nach einer freien Wahl der Kirchgemeinde. Dies ist in anderen Kantonalkirchen im Übrigen schon seit Längerem umgesetzt.
Eine der Empfehlungen will Fusionen zwischen Kirchgemeinden erleichtern oder gar fördern. Kommt dies gut an beim «Fussvolk»?
Vor allem die kleineren Kirchgemeinden kommen je länger, desto mehr an den finanziellen Anschlag. Auch wenn es den meisten heute noch möglich ist, sich dank Pfarrstellensubventionen und Finanzausgleich über Wasser zu halten, kann sich die Situation schnell ändern. Es gehört zu den unangenehmen Aufgaben des Kirchenrats, auf ein solches Szenario aufmerksam zu machen.Wie rasch sich die Lage ändern kann, zeigt sich in der Reformierten Kirche Basel-Stadt. Dort sind die Einnahmen innerhalb von wenigen Jahren richtiggehend eingebrochen. Deshalb empfehlen wir den Kirchgemeinden zu handeln, bevor es zu spät ist. Dass die Kirchenmitglieder an Fusionen nicht einfach Freude haben, ist schon klar. Vielen Kirchenpflegen ist jedoch bewusst, dass in dieser Hinsicht etwas geschehen muss. Es gibt auch Stimmen, die ein schnelleres Vorgehen in dieser Sache fordern.
Ab wie vielen Mitgliedern ist eine Kirchgemeinde überhaupt «überlebensfähig»?
Was heisst überlebensfähig? Jede Grösse von Kirchgemeinde kann es geben. Allerdings wird eine zu kleine Kirchgemeinde eine Pfarrperson nur noch mit wenigen Stellenprozenten anstellen können und der Unterhalt der Gebäude wird kaum mehr tragbar sein. Persönlich meine ich, dass mit etwa 1500 bis 2000 Mitgliedern eine robustere Grösse erreicht wird. Jede Gemeinde hat unterschiedliche Aufgaben und jede muss sich fragen, was sie wirklich braucht.
Wie weit geht der Druck der Kantonalkirche, die Gemeinden zu Fusionen zu bewegen?
Keine Kirchgemeinde wird zu einer Fusion gezwungen. Allerdings sollen mit der Revision der Finanzordnung falsche Strukturanreize beseitigt werden. Im Moment ist vorgesehen, vom heutigen Schlüssel mit verschiedenen Parametern für die Subventionierung von Pfarrstellen auf ein einfacheres System zu wechseln. Künftig soll ein fester Beitrag pro Kirchenmitglied ausgerichtet werden. Dies bedeutet für kleinere Kirchgemeinden, dass sie weniger Subventionen erhalten werden. Weiterhin wird es aber einen Finanzausgleich geben.
Welche Kirchgemeinden sind konkret gefährdet?
Namen werde ich Ihnen keine nennen. Aber persönlich gehe ich davon aus, dass es in den nächsten fünf bis sieben Jahren zu etwa fünf Fusionen kommt. Aber noch immer wird die Kirche in diesen Dörfern präsent sein.
Ein finanzielles Damoklesschwert sind die Steuern juristischer Personen, immerhin gegen 5 Millionen Franken pro Jahr.
Ja, damit wir unsere Leistungen erbringen können, sind wir auf diese Erträge angewiesen. Aber ich möchte es gerne auch einmal umkehren und behaupten, dass es ein Damoklesschwert für die Gesellschaft wäre, wenn man den Landeskirchen diese Steuern wegnehmen würde. Eine Studie hat vor ein paar Jahren ermittelt, dass die Baselbieter Landeskirchen soziale Leistungen für die Gesellschaft erbringt, die einem Betrag von gegen 40 Millionen Franken entsprechen. Im Moment haben wir jedoch keine Hinweise, dass diese Steuer diskutiert werden soll. Diese fliessen im Übrigen nicht in das gottesdienstliche Handeln, sondern wir unterstützen damit unsere Beratungsstellen, soziale Projekte und finanzieren damit beispielsweise die kantonalkirchliche Jugendarbeit.
Hat sich die Anzahl Kirchenaustritte in den vergangenen Jahren stabilisiert?
Insgesamt haben wir einen jährlichen Rückgang von rund 1,6 Prozent, bei gegenwärtig etwa 85 000 Mitgliedern. Davon sind knapp die Hälfte Austritte, die andere, dass laufend weniger Reformierte in unseren Kanton ziehen als umgekehrt und die Todesfälle deutlich über den Geburtsraten liegen.
Was macht die Reformierte Kirche Baselland, um diese Situation zu ändern?
Dies ist schwierig zu beeinflussen. Kampagnen sind eine Möglichkeit; den Leuten zu erklären, welche Leistungen wir erbringen, eine andere. Ich glaube aber, dass wir gut beraten sind, nicht nur auf die Mitgliederzahl zu schauen. Wir müssen uns doch primär fragen, wie wir den Menschen dienen, was wir ihnen vermitteln können. Wir können doch nicht Jugendarbeit machen, damit die Jungen in der Kirche bleiben. Wir müssen generell für die Menschen da sein, dies muss unser Blick sein, und nicht, um die Kirche zu retten.
Auf der anderen Seite haben Freikirchen einen grossen Zulauf. Was machen diese besser?
Es gibt immer wieder Freikirchen, die eine grosse Sogwirkung haben, besonders auf jüngere Leute. Aber auch bei ihnen hält sich gesamtschweizerisch gesehen der Zustrom in Grenzen. Es gibt Freikirchen mit langer Tradition, die stehen heute vor dem gleichen Problem wie unsere Landeskirchen. Zu unseren Werten als reformierte Kirche zählen gewisse Traditionen und sie ist nicht allein auf Innovationen ausgerichtet. Dies ist für jüngere Leute je nachdem weniger attraktiv. Wir brauchen beides, Innovation und Tradition. Wir müssen nicht alles nachmachen.
Woran denken Sie besonders gerne zurück, wenn Sie Ihre zehn Jahre als Kirchenratspräsident Revue passieren lassen?
Vor allem an die vielen guten Begegnungen, hausintern, mit dem Kirchenrat, der Synode und vor allem auch an den Austausch mit den Kirchgemeinden. Ich durfte ganz tief hineinschauen in eine Kirche mit ihren Chancen und Möglichkeiten. Dies wird mir bleiben. Sachgeschäfte ändern rasch. Was heute wichtig ist, kann in fünf oder zehn Jahren ganz anders sein.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Reformierten Kirche Baselland?
Ich wünsche mir eine Kirche, die wie heute glaubwürdig unterwegs ist. Sie und ihre Menschen dürfen sich darauf stützen, dass sie dabei nicht allein sind, sondern Gott an ihrer Seite wissen. Die Kirche wird sich verändern, aber mit einer klaren Zukunftsperspektive. Und vor allem: Sie wird überleben. Davon bin ich tief überzeugt. Mehr Gedanken mache ich mir über die Zukunft unserer Gesellschaft. Wie begegnen sich die Menschen, wo leben sie das gleiche Denken, wo erhalten sie Werte und Grundhaltungen, wenn es eine Institution wie die Landeskirche nicht mehr geben würde?
Zur Person
emg. Der 62-jährige Martin Stingelin hat während 25 Jahren in den Diensten der Reformierten Kirche Baselland gestanden. Er war elf Jahre lang Pfarrer in Reigoldswil-Titterten, übernahm 2004 die Co-Leitung des ökumenischen Pfarramts für Industrie und Wirtschaft und wirkte von 2001 bis 2008 auch als Pfarrkonventspräsident, bevor er im Juli 2009 das Amt des Kirchenratspräsidenten übernahm. Er wohnt mit seiner Frau in Liestal. Zu seinen Zukunftsplänen gefragt, meint er: «Ich werde unter anderem, sofern ich angefragt werde, Stellvertretungen in Kirchgemeinden übernehmen, denn ich predige gerne. Zudem werde ich mir wieder einen Hund zutun, vermehrt lesen und die eine oder andere Vorlesung an der Uni besuchen. Und auch für meine acht Enkelkinder da sein.»