«Unsere Gesellschaft ist 50 Jahre im Rückstand»
29.11.2019 Bezirk Sissach, Tenniken«Unsere Gesellschaft ist 50 Jahre im Rückstand»
Der madagassische Pfarrer Herimampidnona Rasoloniatoyo absolviert am «Ökumenischen Institut Bossey» in der Nähe von Genf ein Studium. Im Gemeindesaal in Zunzgen spricht er am Wochenende über seine Heimat. Im Interview ...
«Unsere Gesellschaft ist 50 Jahre im Rückstand»
Der madagassische Pfarrer Herimampidnona Rasoloniatoyo absolviert am «Ökumenischen Institut Bossey» in der Nähe von Genf ein Studium. Im Gemeindesaal in Zunzgen spricht er am Wochenende über seine Heimat. Im Interview erzählt er von Krisen und dem Einfluss der Kirche in seiner Heimat.
Joshua Moser
Herr Rasoloniatoyo, Sie studieren während neun Monaten in Bossey und werden am Wochenende bei einem Gottesdienst in Tenniken anwesend sein. Was studieren Sie genau?
Herimampidnona Rasoloniatoyo: Das «Ökumenische Institut Bossey» ist ein Ort der multikulturellen und mehrsprachigen, ökumenischen Ausbildung, die sich auf Theologie, biblische Hermeneutik, Sozialethik und Missiologie konzentriert. Es gibt verschiedene Studiengänge oder Abschlüsse. Ich habe mich für das Certificate of Advanced Studies im ökumenischen Studiengang entschieden. Mein eigenes Thema in diesem Kurs ist die ökumenische Missiologie und deshalb ich bin insgesamt neun Monate hier.
Welche Gemeinsamkeiten sehen Sie zwischen Madagaskar und der Schweiz?
Gemeinsam haben die beiden Länder sicher die Religionsfreiheit. Zudem sind die Kulturen in den verschiedenen Regionen innerhalb der beiden Länder sehr unterschiedlich.
Und wo sehen Sie die grössten Unterschiede zwischen den beiden Ländern?
In der Wirtschaft und der Entwicklung: Die Schweiz ist eines der am weitesten entwickelten Länder der Welt. Auf der anderen Seite gehört Madagaskar zu den ärmsten Staaten weltweit. Ein Vergleich des Bruttoinlandprodukts 2018 veranschaulicht den Unterschied: Dasjenige der Schweiz betrug 706 Millionen Dollar, während Madagaskar nur auf 12 Millionen kam. Die Schweizer Bevölkerung macht jedoch weniger als einen Drittel der madagassischen Bevölkerung aus. Es gibt einen großen Unterschied zwischen der Industrialisierung, der Verfügbarkeit von Energie und Wasser, der Bildung und der Korruption. Die madagassische Gesellschaft ist gegenüber der der Schweiz etwa 50 Jahre im Rückstand.
Gibt es auch Unterschiede in der Kultur der Länder?
Ja, in der Schweiz und Madagaskar gibt es unterschiedliche Bräuche und Kulturen. Insbesondere bei den angewandten Sprachen: In Madagaskar sprechen die 18 ethnischen Gruppen eine offizielle Sprache. In der Schweiz gibt es vier verschiedene Sprachen.
Madagaskar ist eine ehemalige französische Kolonie und seit 1960 unabhängig. Mischt sich Frankreich noch immer in die madagassische Politik ein?
Ja, momentan gibt es politische Einmischung in die madagassische Politik von Seiten Frankreichs. Das Problem ist nicht nur Frankreich: Es gibt auch einige andere «starke» Nationen, die dazu neigen, Madagaskar zu ihrer Kolonie zu machen. In meiner Heimat hat es mehrere Nichtregierungsorganisationen, die gesellschaftliche Interessen vertreten, aber nicht einem Staat oder einer Regierung unterstellt sein sollten.Trotzdem mischen diese sich in das politische und wirtschaftliche Leben des Landes ein. Diese Nichtregierungsorganisationen werden von Frankreich und anderen reichen Ländern finanziert.
Was machen diese Nichtregierungsorganisationen in Madagaskar konkret?
Sie bedienen sich nicht nur an Rohmaterialien, sondern üben auch politische Macht aus. Sie verwenden viel Geld, um durch Korruption Einfluss auf die Politik zu nehmen. So gibt es immer wieder politische Krisen. Die starken Nationen schaffen Konflikte zwischen den Madagassen.
In meiner Heimat ist keine Entwicklung möglich, weil die madagassischen Regierungsmitglieder die Nation nach jeder Krise für ihren eigenen Profit missbrauchen.
Wie beurteilen Sie den aktuellen Staatspräsidenten Andry Rajoelina?
Bislang ist er ein guter Präsident, er ist aber erst zehn Monate im Amt. Er scheint gut organisiert zu sein und ist sehr jung. Zudem sieht es so aus, als wäre er heute eher bereit, Menschen zu führen als damals, als er noch Übergangspräsident war. Aber wir werden sehen: Weitere Ergebnisse müssen wir noch abwarten.
Leben Sie in einem demokratischen Staat?
Ja, Madagaskar ist demokratisch organisiert. Die Bürger können durch Präsidentschafts-, Parlaments- oder Kommunalwahlen mitbestimmen. Die Demokratie sind wir in Madagaskar immer noch am Lernen. Aufgrund von Korruption wird die Meinung der Bürger nicht erhört. Die Meinungsfreiheit existiert noch nicht wirklich. Das Ergebnis ist eine Lawine der Korruption: Das Volk wird oft durch die Ideen und Interessen von Minderheiten beherrscht.
Was braucht der Staat Madagaskar, um vom Entwicklungs- zum Schwellenland oder gar zum Industrieland zu werden?
Madagaskar braucht ein gutes Staatsoberhaupt, das immer daran denkt, wie er das Land entwickeln kann: Die Bildungsqualität muss verbessert werden, den Bauern muss geholfen werden, die Quantität und Qualität ihrer Produkte zu verbessern, damit wir einige Produkte exportieren können. Wir müssen den Wert lokaler Produkte steigern und Kunden im Ausland finden, welche die Ernte kaufen. Wir könnten beispielsweise Vanille vertreiben. Der Staat sollte mehrere Banken haben, um die Aktivitäten der Menschen zu unterstützen.
Wie kann die Kirche, der christliche Glaube und die Gemeinschaft unter den Christen eine Hilfe für das Volk sein?
Die Mehrheit der Bevölkerung geht dem christlichen Glauben nach, insbesondere den vier grossen Kirchen: der römisch-katholischen, der reformierten, der lutherischen und der anglikanischen Kirche. Der Staat ist eigentlich säkular, er wird nicht von der Kirche geführt. Sie üben manchmal aber noch ihre Rolle als Propheten der Nation aus. Oft intervenieren die Kirchen bei politischen Krisen. Auf sozialer und entwicklungspolitischer Ebene soll das kirchliche Engagement fortgesetzt werden: Alle Kirchen haben Schulen, Kliniken, Krankenhäuser und viele Entwicklungsprojekte umgesetzt, um den Menschen in ihrem Leben zu helfen. Kirchen können gute Taten vollbringen, zum Beispiel den Armen und Waisen helfen.
Regionalgottesdienst «Fenster in die Welt», Sonntag, 1. Dezember, 10.30 Uhr, Kirche Tenniken.