«Fördern, nicht demontieren»
20.06.2019 Bezirk Sissach, Itingen, Verkehr, LausenSilvio Pitschen und Emil Martin kämpfen auch im hohen Alter noch für einen besseren öV
Die SBB wollen bei einem Kurs der S3 die Halte in Lausen und Itingen streichen. Die Itinger Silvio Pitschen (90) und Emil Martin (83) haben sofort Protest angemeldet. Beide setzen sich seit einer ...
Silvio Pitschen und Emil Martin kämpfen auch im hohen Alter noch für einen besseren öV
Die SBB wollen bei einem Kurs der S3 die Halte in Lausen und Itingen streichen. Die Itinger Silvio Pitschen (90) und Emil Martin (83) haben sofort Protest angemeldet. Beide setzen sich seit einer halben Ewigkeit unermüdlich für einen besseren und umweltfreundlichen öV ein. Aktuell kritisieren sie den Bahnhofsausbau in Liestal.
David Thommen
Herr Pitschen, Herr Martin, die SBB wollen einen der S-Bahn-Kurse zur Stosszeit am frühen Abend in Lausen und Itingen nicht mehr anhalten lassen. Ist das der Anfang einer unguten Entwicklung für das Oberbaselbiet?
Emil Martin: Das ist leider anzunehmen. Es gibt auch am Morgen drei solche Entlastungszüge. Einer davon macht heute schon keinen Halt mehr in Lausen. Weil die Kapazität auf dem Trassee immer geringer wird, ist es denkbar, dass in naher Zukunft noch weiter gestrichen wird. Ich halte das für falsch: Wir sollten den öV fördern, nicht demontieren.
Kommt das nicht mit Ansage? Es war absehbar, dass die Kapazität auf dieser Linie irgendwann nicht mehr ausreichen wird.
Silvio Pitschen: Unbestritten wird es immer enger. Doch mit dem Streichen der Halte in Lausen und Itingen wird auf der Strecke nur gerade eine Minute gewonnen. Es soll mir niemand erzählen, dass der Fahrplan nur wegen dieser einen Minute überhaupt noch aufgegangen ist.
Martin: Wobei in Tat und Wahrheit ja nicht einmal eine einzige Minute gespart wird. Die S-Bahn fährt laut Fahrplanentwurf nämlich zur gleichen Zeit in Basel los wie heute und kommt zur gleichen Zeit in Olten an.
Pitschen: Es gibt viele Passagiere in Itingen und Lausen, die auf diesen Zug angewiesen sind. Da kann man die Halte nicht einfach mit einer fadenscheinigen Begründung streichen.
Martin: Die SBB haben so etwas vor 15 oder 20 Jahren schon einmal geplant. Wir konnten ihnen damals grafisch nachweisen, dass die Massnahme auf die Kapazität der Strecke keinen Einfluss hat. Heute verhält sich das nicht anders.
Die SBB machen das vermutlich ja nicht einfach aus einer Laune heraus …
Martin: Das will ich nicht kommentieren. Fakt ist einfach, dass sich offensichtlich kaum noch jemand findet, der sich gegen einen solchen Abbau wehrt.
Die Baselbieter Regierung müsste so etwas unbedingt abwenden.
Pitschen: Mich würde interessieren, ob der Regierungsrat überhaupt davon Kenntnis hatte.
Sie haben sich in den 80er- und 90er-Jahren mit Ihrem «Verein umweltgerechte Bahn» (VUB) mit Händen und Füssen gegen einen Gleisausbau im Zusammenhang mit der Bahn-2000-Planung gewehrt – und waren erfolgreich. Letztlich ein Pyrrhussieg, wenn man die Situation heute anschaut?
Martin: Wir hatten nur in einem gewissen Sinne Erfolg. Wir konnten zum Glück die geplante Linienführung durchs Ergolztal verhindern. Sie wäre für unseren Kantonsteil eine Katastrophe gewesen, zudem hätte man den geplanten Wisenbergtunnel ab Sissach bis ins Mittelland wegen der schwierigen geologischen Verhältnisse kaum realisieren können.Verloren haben wir aber, weil keine der besseren Varianten, die Liestal, Lausen, Itingen und Sissach gemeinsam vorgeschlagen hatten, realisiert worden ist. Die beste Lösung wäre ein neuer Tunnel ab Muttenz direkt ins Mittelland gewesen, oder aber einer, der zwischen Frenkendorf und Liestal Richtung Mittelland abzweigt.
Pitschen: Wir waren nie gegen einen neuen Juradurchstich. Er ist auch heute noch unbestritten nötig.
Dennoch: Ohne Ihren Widerstand wäre der Wisenbergtunnel heute vielleicht schon eingeweiht und die Kapazitätsdiskussionen gäbe es nicht …
Pitschen: Dann hätten wir jetzt eine überbreite Schneise durchs ganze Tal, vermutlich hätte unter anderem der Ebenrain-Schlosspark aufgegeben werden müssen …
Martin: … und der neue Tunnel müsste wohl bereits saniert werden, weil er vom Juragestein zerquetscht worden wäre (lacht). Nein, die Pläne waren schlecht, da waren sich letztlich alle Experten einig. Und wenn schon, hätte die Bahn unter dem Boden durch Liestal und durchs ganze Ergolztal geführt werden müssen.
Tatsache bleibt: Wir bringen zu wenige Züge hier durch.
Martin: Die Kapazitätsfrage wird sich in nicht allzu ferner Zukunft noch verschärfter stellen. Die zweite Etappe des Lötschbergtunnels ist ja schon gebohrt, es fehlt nur noch die Bahninfrastruktur. Dort wird die Kapazität für den Güterfernverkehr deutlich erhöht. Und Deutschland führt neue Gleise für den Güterverkehr an die Schweiz heran, der via Hauenstein oder Bözberg durch die Nordwestschweiz muss.
Das heisst?
Martin: Heute haben wir etwa 425 Züge pro Tag auf der Strecke durchs Ergolztal. Sie ist damit ausgelastet, viel mehr geht nicht. Auch auf der Bözberglinie hat es nur noch etwas Spielraum. Neue Trassen sind also unausweichlich, wenn der zusätzliche Verkehr bewältigt werden soll.
Liestal hatte sich seinerzeit ebenso heftig gegen die Bahn 2000 gewehrt wie Sie in Itingen. Ultimativ verlangt wurde eine Tieflage. Später ist dort der Widerstand erloschen – kürzlich nun wurden die Arbeiten für ein zusätzliches oberirdisches Gleis aufgenommen …
Pitschen: In Liestal gibt es weit und breit niemanden mehr, der sich kritisch mit solchen Fragen befasst.
Martin: Wir haben uns bei diesem Projekt in Liestal darauf beschränkt, das Bahntechnische genauer anzuschauen. Immerhin konnten wir bewirken, dass im Bahnhofbereich zwei zusätzliche Weichen eingebaut werden, sonst wäre man dort schon bei kleinen Störungen im Bahnbetrieb sofort an den Anschlag gekommen.
Pitschen: Das ändert nichts daran, dass das jetzige Ausbauprojekt schlecht ist: Das Kapazitätsproblem, das heute in Liestal bei der Einfahrt von Basel her besteht, wird einfach nach Osten verschoben. Man baut ein zusätzliches viertes Gleis durch Liestal und schafft dort zusätzlich ein neues Wendegleis für die S-Bahn. Aber schon kurz nach dem Bahnhof in Richtung Lausen, beim Burgeinschnitt, belässt man es bei den bestehenden beiden Gleisen, die schon heute nicht mehr genügen. Man investiert also viele Millionen Franken und gewinnt für die gesamte Nord-Süd-Strecke rein gar nichts. Der Engpass bleibt.
Immerhin bekommt Liestal damit den Viertelstundentakt beim S-Bahnverkehr.
Martin: Der Preis dafür – finanziell und auch wegen der massiven Verbreiterung der Bahnschneise – ist viel zu hoch. Letztlich bleibt dieser abgespeckte Ausbau – ohne kreuzungsfreie Entflechtung – Stückwerk. Schlecht ist auch die Idee des geplanten Wendegleises für die S-Bahn. Was passiert? Der Zug wird dort einfach während 25 Minuten warten, bis er wieder nach Basel zurückfährt. In dieser Zeit könnte er bis nach Sissach verkehren, was mehr bringen würde, oder wenigstens auf der bestehenden Güteranlage in Lausen geparkt werden. Das hätte weniger grosse Investitionen erfordert.
Pitschen: Neue Kapazitäten hätten unterirdisch durch Liestal und über Liestal hinaus geschaffen werden müssen. Diese Möglichkeit verbaut man sich nun mit einem viel zu teuren Projekt. Und niemand in Liestal hat sich dagegen gewehrt. Wo bleibt der Nutzen?
Martin: Der Engpass beim Burgeinschnitt wird nun quasi zementiert. Eine Fortsetzung Richtung neuen Juradurchstich wird Probleme geben. Wenigstens hätte man die Waldenburgerbahn, die man nun ja komplett neu baut, unterirdisch nach Liestal führen müssen. Damit hätte man beim Burgeinschnitt Platz für einen SBB-Kapazitätsausbau gewonnen. Man spart am falschen Ort.
Das ganze Ausbauprojekt bis nach Liestal endet Ihrer Meinung nach also irgendwie in einer Sackgasse?
Pitschen: Das Projekt ist unverhältnismässig und wurde nicht zu Ende gedacht. Der Berg gebiert hier gerade eine Maus.
Mit der Folge, dass der Viertelstundentakt oberhalb von Liestal aus Kapazitätsgründen nicht möglich sein wird.
Martin: Wie gesagt, es geht nicht nur um den Regionalverkehr. Auch für den Güterverkehr fehlen die Trassen.
Schauen wir noch kurz nach Sissach: Die S9, das «Läufelfingerli», ist bislang nicht an die Stammlinie Richtung Basel angeschlossen worden. Sollte das noch kommen?
Martin: Unbedingt. Ich habe den Vorschlag schriftlich bei der kantonalen Baudirektion eingereicht. Wünschbar wäre ein Halbstundentakt von Basel über Sissach und Läufelfingen bis nach Olten. Dazu müsste die «Läufelfingerli»-Linie im Bahnhof Sissach wieder mit einer Weiche an die Stammlinie angeschlossen werden. Das gab es früher ja auch schon, wurde aber einmal mehr unüberlegt herausgerissen. Die S-Bahn-Zugskomposition müsste jeweils in Sissach geteilt beziehungsweise vereint werden: Ein Teil fährt via Tecknau, der andere via Läufelfingen. Technisch wäre das mit den Flirt-Zügen kein Problem.
Die S9 leidet allerdings unter einer viel zu tiefen Auslastung.
Pitschen: Was nicht verwunderlich ist. Die Bahnstrecke wird durch den Bus zu stark konkurrenziert.
Martin: In der Studie Hochschule Luzern aus dem Jahr 2016 wird ein Ringbus im oberen Homburgertal vorgeschlagen, der in Läufelfingen endet. Dort sollte die Umsteigeplattform sein. Damit könnte die S9 viel besser ausgelastet werden.
Eine letzte Frage, die uns umtreibt: Sie, Herr Pitschen, sind 90 Jahre alt geworden, Sie, Herr Martin, sind auch schon 83 und wissen noch über fast jedes Detail im Bahnbetrieb Bescheid. Was bringt Sie dazu, sich immer noch so stark zu engagieren?
Pitschen: Ich möchte mich nun altersbedingt nicht mehr allzu sehr exponieren. Aber die Verbundenheit mit der Bahn ist halt unverändert vorhanden. Ich habe schon als Kind jeweils geholfen, das «Läufelfingerli» auf der Drehscheibe in Sissach zu wenden. Oder ich habe dort Kohle geschaufelt und als Junger nächtelang geholfen, Kirschen in die Waggons zu verladen. Die Bahn hat mich mein Leben lang begeistert.
Martin: Ich habe 15 Jahre lang bei den SBB gearbeitet, zuletzt in Lausen. Danach trat ich in die Transportabteilung einer Chemiefirma ein. Dort haben wir den Rangierdienst für alle Firmen in der ganzen Schweizerhalle abgewickelt. Ich kenne mich daher aus und mein Interesse an der Bahn besteht unverändert weiter. Wir kritisieren nicht nur, sondern haben immer auch gute Vorschläge eingebracht.
Pitschen: Und wir haben auch heute noch die Hoffnung, dass wir den Durchbruch für eines der Projekte erleben, für die wir lange und hart gekämpft haben.
Kämpfer für eine umweltgerechte Bahn
tho. Der Itinger Emil Martin hatte vergangene Woche in der «Volksstimme» verlangt, dass die SBB im neuen Fahrplan bei einem S3-Kurs auf die Streichung der Halte in Itingen und Sissach verzichtet. Die Forderung wurde im Landrat von Sandra Strüby (SP, Buckten) und Sasika Schenker (FDP, Itingen) aufgegriffen. Die Baudirektion wurde in der Folge vom Parlament dringlich verpflichtet, die Haltestellenstreichung nochmals zu überprüfen.
Emil Martin war einige Jahre Co-Präsident des Itinger «Vereins umweltgerechte Bahn» (VUB). Ein prägender Mitstreiter war auch Silvio Pischen. Der Verein hatte es sich zum Ziel gesetzt, die in den 80erund 90er-Jahren verfolgten Bahn-2000-Pläne für einen massiven Streckenausbau im Ergolztal zu verhindern.
Mittlerweile gab es einen Generationenwechsel: Der «VUB Itingen» heisst nun «Pro öffentlicher Verkehr Itingen (PöVI)». Martin und Pitschen haben darin keine offizielle Funktion mehr. Zur Zeit sind die VUB-Vereine in Liestal und Sissach «stillgelegt», der VUB Liestal wurde aufgelöst. Der Verein «Pro öffentlicher Verkehr Itingen» hat sich ebenfalls gegen die Streichung der S9-Halte in Lausen und Itingen engagiert.