Stilles Jubiläum im Dorfkern
11.10.2018 Baselbiet, Bezirk Sissach, SissachSeit zehn Jahren gibt es die Begegnungszone
tho. Zehn Jahre Sissacher Begegnungszone – wenn das kein Grund zum Feiern ist! Könnte man meinen – denn gefeiert wird dieser Tage nicht. Gemeinde und Gewerbe haben einen Jubiläumsanlass zwar geprüft, doch mit Blick auf die ...
Seit zehn Jahren gibt es die Begegnungszone
tho. Zehn Jahre Sissacher Begegnungszone – wenn das kein Grund zum Feiern ist! Könnte man meinen – denn gefeiert wird dieser Tage nicht. Gemeinde und Gewerbe haben einen Jubiläumsanlass zwar geprüft, doch mit Blick auf die Gewerbeausstellung Mega vom kommenden Mai auf ein eigenes Fest verzichtet.
Die «Volksstimme» nimmt das Jubiläum zum Anlass für einen Schwerpunkt in ihrer heutigen Ausgabe. Der ehemalige Sissacher Gemeindepräsident Rudolf Schaffner und die einstige Strassenchefin Alice Leber-Gfeller erinnern sich an die Entstehung der Umfahrung Sissach und der Begegnungszone. Sie schreiben von «Albträumen» und «Knacknüssen», aber auch von einem glücklichen Ausgang für das Jahrhundertwerk.
Der heutige Gemeindepräsident Peter Buser sagt im Interview, dass er trotz der anhaltenden Kritik am «Strichcode» generell recht zufrieden sei mit der Situation. Zwar habe es manchmal tatsächlich zu viel Verkehr, doch dadurch werde der Ortskern auch lebendig. Selbstkritisch räumt er ein, dass es der Gemeinderat bislang versäumt habe, einzelne Korrekturen am Verkehrsregime vorzunehmen. Radikale Änderungen – wie beispielsweise Einbahnverkehr – lehnt Buser jedoch ab.
Schliesslich kommen in der heutigen «Volksstimme» Betreiberinnen und Betreiber von Läden in der Begegnungszone zu Wort. Ganz zufrieden mit der Situation ist zwar fast niemand, der Tenor ist grundsätzlich dennoch positiv.
10 Jahre «Strichcode» – Erinnerung und Bilanz
Alt Gemeindepräsident Rudolf Schaffner über gleich zwei Jahrhundertwerke
«Eine Chronik schreibt nur derjenige, dem die Gegenwart wichtig ist.»
Frei nach Goethe
Rudolf Schaffner
Ein Rückblick auf das Projekt «Strichcode» kann nur im Zusammenhang mit der Entwicklung des Gesamtkonzepts «Umfahrung Sissach» verständlich wiedergegeben werden. Die entsprechenden politischen und finanziellen Abhängigkeiten waren bindend. Ich erlaube mir deshalb, mit meiner Betrachtung etwas weiter auszuholen.
In der Zeit zwischen 1988 und 2003 sind, aus meiner persönlichen Optik, die beiden lokalen Verkehrsdiskussionen zu den Themen «Umfahrung Sissach» und «Bahn 2000» nach wie vor die emotionalsten politischen Themen gewesen. Was den «Strichcode» anbelangt, sind diese teilweise immer noch aktuell. Wie ist es dazu gekommen ?
Mit dem wirtschaftlichen und damit auch dem baulichen Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg begann einerseits eine Bevölkerungszuwanderung ins bis anhin noch fast rein bäuerliche Oberbaselbiet. Andererseits war dies auch der Beginn der ersten Strassen- und Ortsplanungen. Die Autobahnen haben später auch ihren Teil zur weiteren Zersiedelung beigetragen. Die kantonale Planung aus dem Jahr 1946 beinhaltete erstmals die Umfahr+ung Sissach unter dem Namen T2. Die Linienführung war der Ergolz entlang geplant, was noch heute sichtbare Auswirkungen beim später gebauten Schulhaus Bützenen hatte. Gestaltung und Grundriss waren dieser Gesetzmässigkeit des Strassenperimeters unterworfen.
20 000 Autos im Ortskern
Erst im Jahr 1987 änderte der Landrat den Strassennetzplan. Die alte Linienführung wurde aufgehoben. Zu dieser Zeit bewegten sich rund 20 000 Autos pro Tag durch die Hauptstrasse zwischen Sonnenkreuzung und Kantonalbank. Wer von den älteren Generationen erinnert sich nicht noch an den jeweils in Stosszeiten auf der Sonnenkreuzung wirkenden Polizisten?
1988 kam es dann zur denkwürdigen Gemeindeversammlung in Sissach mit mehr als 400 Beteiligten, die im Verhältnis 2 zu 1 konsultativ Ja sagten zur vorgeschlagenen neuen Linienführung. Der primäre Grund zur Einberufung dieser ausserordentlichen Gemeindeversammlung war eine politische Lehre aus der kurz davor kantonal an der Urne abgelehnten Schlossgassen-Revision in Binningen. Gemäss politischen Analysten fehlte den restlichen Baselbieter Stimmberechtigten ein klares Zeichen der «betroffenen Gemeinde».
Das landrätlich angenommene Projekt wurde selbstverständlich mittels Referendum der Volksabstimmung unterworfen. Die Trennlinien gingen quer durch alle politischen «Couleurs». Vertreter des Geschäfts war SP-Regierungsrat Edi Belser. In Sissach wurden Pro- und Kontra-Komitees gegründet und auch aktiv.
Die Wogen im Abstimmungskampf gingen sehr hoch. So wurde an der Fluh ein riesiges Plakat der Umfahrungsgegner angebracht – und glücklicherweise wieder unfallfrei, aber nicht emotionslos entfernt. Das Baselbieter Volk stimmte dem Projektierungskredit am 12. Juni 1988 mit 45 000 Ja gegen 23 000 Nein deutlich zu. Aus heutiger Sicht ist noch hervorzuheben, dass dieses Projekt ohne die Unterführung Diegtertal beim Ebenrain geplant war. Dies deshalb, weil die entsprechende und auch in der Neuzeit wieder aktuelle Forderung nach diesem Anschluss im Projekt Bahn 2000 berücksichtigt war. Dazu war mit der Erneuerung des Bahnhofs Sissach auch die Unterführung vom Bahnhof direkt in die Postgasse geplant. Ob da zwei Chancen verpasst wurden, kann nicht Bestandteil dieses Rückblicks sein. Gesichert ist, dass einerseits mit der Sistierung des Projekts Bahn 2000 im Raum Sissach der Anschluss verloren ging und nicht mehr ins Projekt Umfahrung integriert werden konnte, andererseits mit der Streichung der Unterführung aus dem lokalen Investitionsplan auch diese Neuerung verschwand.
An einer weiteren ausserordentlichen Gemeindeversammlung im Januar 1989 wurden weitere Forderungen aufgestellt und verabschiedet (Verlegung des Kreisels im Westen, Verlegung des Tunnelportals und Änderung der Zufahrt zur Kläranlage). All diesen Anträgen stimmte der Kanton zu. Ein nicht unbedeutender Protagonist für die Verlegung des Kreisels bei Böckten war damals ein Eisvogel.
Gegen den vom Landrat im Mai 1991 gesprochenen Baukredit von 179 Millionen Franken wurde wiederum das Referendum ergriffen. Am 8. Dezember 1991 stimmte jedoch das Baselbieter Volk auch diesem Kredit zu.
«Geburtshelfer» Fritz Graf
Der Weg für die Strasse schien frei, wäre nicht auf einmal in Bern Bundesrat Otto Stich auf die konjunkturell bedingte Sparbremse getreten. Wie wir alle wissen, konnte dieses Kapitel zwischenzeitlich trotz Geldmangels in den heutigen Zustand versetzt werden. Betreffend «Keuper» und Kostenüberschreitungen schweigt des Sängers Höflichkeit in diesem Rückblick.
Bestandteil des Handels mit dem Kanton waren auch der Abtausch der Hauptstrasse und der Bahnhofstrasse zwischen Kanton und Gemeinde und die verbindlichen Auflagen für die Ortskerngestaltung. Diese Verpflichtung und die daraus zweckgebundenen, zugewiesenen Mittel verdanken wir nicht zuletzt einem erfolgreichen Zusatzantrag unseres langjährigen Landrats Fritz Graf. Er kann somit auch als «Geburtshelfer» der flankierenden Massnahmen, wie sie damals noch hiessen, bezeichnet werden.
Zur Entwicklung des Projekts bis hin zum fertigen «Strichcode» überlasse ich das Wort meiner damaligen Kollegin im Gemeinderat und Projektverantwortlichen, Alice Leber.
Ergänzen möchte ich nur die politisch brisante Ausgangslage für den Gemeinderat und die eingesetzte Kommission. Bewegten sich doch die ursprünglichen, lokalen Forderungen in einer Bandbreite von «Es darf an der Hauptstrasse überhaupt nichts geändert werden» bis hin zu «total verkehrsfrei mit Kinderspielplatz und Sandkasten».
Und so durfte der Gemeinderat im Dezember 158 Stimmberechtigte an der Gemeindeversammlung zum Thema «flankierende Massnahmen» mit dem von Raoul Rosenmund aus Liestal entworfenen Siegerprojekt des Wettbewerbes «Strichcode» begrüssen. Aufgrund der Tragweite des Geschäfts hat der Gemeinderat entschieden, erstmals vier Gemeinderäte referieren zu lassen. Neben der Projektleiterin und dem Präsidenten waren da noch Marcel Fischer und Petra Schmidt, die aus der Sicht ihrer Departemente für Zustimmung geworben haben.
In meinen Notizen zur beschriebenen Versammlung fand ich die folgenden Zeilen meiner damaligen Einleitung:
Das folgende Geschäft Strichcode ist kein gewöhnliches Geschäft – wenn es solche überhaupt gibt. Das nächste Geschäft ist aus der Optik des Gemeinderates ein sogenanntes Jahrhundertgeschäft. Wir gehen davon aus, dass uns unsere Nachkommen bei der historischen Betrachtung unseres Tuns im Jahre 2001 auch am Entscheid zum heutigen Geschäft messen werden.
Der Gemeinderat ist sich der Besonderheit dieses Geschäftes bewusst, weshalb er eine besonders intensive Vorbereitung, mit einer gemeindeinternen Kommission und unter Beizug von externen Spezialisten betrieben hat.
Wir hoffen, damit in Sissach selbst einen Weg gefunden zu haben für die weiterhin dem Kanton gehörende Hauptstrasse.
Die Abstimmung ergab eine «grossmehrheitliche Zustimmung» mit 7 Nein-Stimmen und 8 Enthaltungen. Das Resultat durfte wohl ohne Selbstüberschätzung oder Überheblichkeit auch als Bestätigung für die Behörde gewertet werden. Dem Gemeinderat war es in intensiver Teamarbeit wohl gelungen, den Stimmberechtigten klarzumachen, dass sie einheitlich hinter dem Geschäft gestanden sind und sie am gleichen Strick in die gleiche Richtung gezogen haben.
Stets ein Prozess
Zum 5-Jahre-Jubiläum der Eröffnung der «Begegnungszone» schrieb die «Volksstimme» unter anderem, dass Gewerbe, Bevölkerung und Politik ein grundsätzlich sehr positives Fazit ziehen. Auch aus den Nachbargemeinden vernimmt man Lob und sogar ein bisschen Neid. Aber es gibt auch viele Verbesserungsvorschläge. Insbesondere wird über zu viel Verkehr geklagt.
Jetzt stehen wir 10 Jahre nach der Eröffnung. Ich möchte ausdrücklich daran erinnern, dass die Lösung «Strichcode», wie in vielen politischen Prozessen üblich, die Summe aller Kompromisse darstellt. Und ohne die damalige «Gilde» loben zu wollen: Für die dannzumal geltenden Rahmenbedingungen ist die Lösung sicher gut geworden. Das soll aber nicht heissen, dass man 10 Jahre nach der Eröffnung oder 17 Jahre nach der politischen Zustimmung gewisse Mechanismen nicht in Frage stellen darf und muss. Auch das ist ein politischer Prozess.
Rudolf Schaffner (ehemals SVP) war von 1988–1992 Sissacher Gemeinderat und von 1992–2003 Gemeindepräsident. Wenn Alice Leber im nachstehenden Beitrag als «Mutter» von Umfahrung und Ortskerngestaltung genannt wird, darf Rudolf Schaffner die Vaterschaft zuerkannt werden.
Sissach und der Stau – eine sehr lange Geschichte
tho. Am 18./19. Oktober 2008 ist der neugestaltete Sissacher Ortskern mit einem Volksfest offiziell eröffnet worden. Rund 9 Millionen Franken hatte das Werk gekostet, bezahlt vom Kanton als «flankierende Massnahme» zur Umfahrung Sissach, die 2006 eröffnet worden war und 330 Millionen verschlungen hatte – deutlich mehr als budgetiert. Feierlichkeiten aus Anlass des Zehn-Jahre-Jubiläums des «Strichcodes» sind nicht geplant. Mit der Gewerbeausstellung Mega gibt es dafür im kommenden Jahr vom 17. bis 19. Mai einen Grossanlass.
Das «Zehnjährige» soll dennoch genutzt werden, um auf die lange Entstehungsgeschichte zurückzublicken. Die «Volksstimme» hat den ehemaligen Gemeindepräsidenten Rudof Schaffner und die damalige Strassenchefin Alice Leber gebeten, ihre Erinnerungen zu Papier zu bringen. Aus beiden Texten geht hervor, wie lang und hart der Kampf für die Befreiung Sissachs vom Verkehr war.