Kirche reformiert sich
26.10.2018 Baselbiet, KircheNeue Verfassung fördert Fusionen
vs. «Nur noch 30 Prozent der Baselbieter Bevölkerung sind reformiert», sagt Martin Stingelin. In den Fünzigerjahren seien es noch 73 Prozent gewesen. Der Präsident des Krichenrats der Reformierten Kirche Baselland macht sich trotzdem ...
Neue Verfassung fördert Fusionen
vs. «Nur noch 30 Prozent der Baselbieter Bevölkerung sind reformiert», sagt Martin Stingelin. In den Fünzigerjahren seien es noch 73 Prozent gewesen. Der Präsident des Krichenrats der Reformierten Kirche Baselland macht sich trotzdem keine Sorgen um die Zukunft. Die Situation führt jedoch dazu, dass die reformierte Kirche in verschiedenen Bereichen neue Lösungsansätze finden muss. Dabei soll einen neue Verfassung helfen, die Anfang November in die Vernehmlassung geht, 2019 von der Synode behandelt wird und schliesslich voraussichtlich im Frühjahr 2020 vors Volk kommt.
In Rothenfluh verfügt das Pfarramt heute noch über 60 Stellenprozente, in fünf weiteren Kirchgemeinden ist dies ebenso der Fall. Man könne, so Stingelin, daher nicht davon ausgehen, dass die Pfarrperson rund um die Uhr da ist und sämtliche Dienstleistungen abdeckt. In solchen Fällen müsse man eng zusammenarbeiten.
Das neue Kirchenrecht würde Fusionen von Kirchgemeinden vereinfachen. Stingelin betont im Gespräch mit der «Volksstimme», dass auch in Zukunft die Gemeinden selber über Zusammenschlüsse entscheiden und nicht gezwungen werden könnten. Dennoch gibt er zu: «Ja, wir begrüssen Fusionen.» Und: «Es passiert nur etwas, wenn goldene Fesseln gelöst werden.»
Neues Kirchenrecht fördert Fusionen
Kirchenratspräsident Martin Stingelin: «Die Gemeinden entscheiden selbst»
Die neue Verfassung der reformierten Kirche geht bald in die Vernehmlassung. Kirchenratspräsident Martin Stingelin hält Fusionen von Kirchgemeinden vielerorts für sinnvoll und sagt trotz Pensenreduktion: «Wir laufen in einen Pfarrermangel.»
Elmar Gächter
Am 5. November geht die neue Verfassung der Reformierten Kirche Baselland in die Vernehmlassung. Sie kommt 2019 in zwei Lesungen vor die Synode und voraussichtlich im Frühjahr 2020 zur Volksabstimmung. Die neue Verfassung ist ein erstes grosses und sichtbares Ergebnis der Arbeit an den sogenannten Visitationsempfehlungen. Deren Umsetzung soll der reformierten Kirche die richtigen Schritte in die Zukunft ermöglichen. Kirchenratspräsident Pfarrer Martin Stingelin aus Liestal äussert sich gegenüber der «Volksstimme» zu den wichtigsten Themen: Verordnet die kantonale Kirche nun Fusionen zwischen Kirchgemeinden? Haben die Pfarrer wegen der Pensenreduktionen in vielen Gemeinden Existenzängste? Und wie soll die reformierte Kirche funktionieren, wenn sie, wie vorausgesehen, bald ein Drittel weniger Geld zur Verfügung haben wird?
«Volksstimme»: Herr Stingelin, vor fast genau zwei Jahren haben Sie in dieser Zeitung geäussert, dass sich die reformierte Kirche trotz aktueller Probleme keine Sorgen um die Zukunft machen müsse. Stehen Sie immer noch zu dieser Aussage?
Martin Stingelin: Davon bin ich heute noch mehr überzeugt. Klar gibt es Dinge, die einem zu denken geben und man sich überlegt, wohin dies führt. Ich spreche jedoch nicht von Sorgen, sondern von Herausforderungen. Solche zählen allerdings seit jeher zum Kirchesein.
Laut dem «Konzept Umsetzung Visitation» stehen der Reformierten Kirche Baselland bis 2026 bis zu einem Drittel weniger Finanzmittel zur Verfügung, vor allem wegen des Rückgangs an Mitgliedern und des Kantonsbeitrags. Intelligente Lösungen seien da gefragt. Wo steht der Reformprozess heute?
Insbesondere ist die Zusammenarbeit zwischen vornehmlich kleineren Kirchgemeinden intensiviert worden, beispielsweise die gemeinsame Suche nach Pfarrpersonen unter Nachbargemeinden. Dies ermöglicht es, Kräfte zu bündeln. Auf der Finanzebene schauen wir nicht nur, wo wir einsparen können, sondern auch, welche wichtigen neuen Aufgaben wir anpacken müssen. So überlegen wir, ähnlich wie in der Spitalseelsorge, unsere kirchlichen Dienstleistungen auf regionale Altersheime auszudehnen. Eines der wichtigsten Ziele sehen wir in der Flexibilisierung unserer verfassungsmässigen Grundlagen. Wir wollen das Subsidiaritätsprinzip stärken und unsere Kirchenverfassung von 1952 auf das Wesentlichste beschränken.
Welches sind die wichtigsten Änderungen?
Die Situation unserer Kirche hat sich seit 1952 gewaltig geändert. Wir haben heute zwar deutlich mehr Mitglieder als damals, aber es sind nur noch 30 Prozent der Baselbieter Bevölkerung reformiert. Anfang der Fünfzigerjahre waren es noch 73 Prozent. Dennoch wollen wir nach wie vor Landeskirche, das heisst Volkskirche, sein, die für die Menschen da ist. Dies ist etwas vom Zentralsten, das wir auch in der neuen Verfassung klar festhalten und formulieren. Der zweite wesentliche Teil ist wie erwähnt die Flexibilisierung. Dazu gehört unter anderem die freie Kirchgemeindewahl oder die Möglichkeit für Kirchgemeinden, einfacher zu fusionieren. Daneben gibt es noch verschiedene alte Zöpfe, die es abzuschneiden gilt oder auch sprachliche Anpassungen. Und nicht zuletzt geht es um eine klare, zeitgemässe Formulierung, was wir als Kirche wollen und was wir uns auch leisten wollen. Dieser Grundauftrag in acht Punkten enthält neue Aspekte wie den Dialog mit anderen christlichen Kirchen oder den verschiedenen Religionsgemeinschaften.
Nehmen wir die freie Kirchgemeindewahl, die in der neuen Verfassung verankert werden soll. Was heisst dies für das einzelne Kirchenmitglied?
Grundsätzlich rechne ich nicht mit vielen Leuten, die davon Gebrauch machen. Aber es sind vielfach jene, die aktiv am Gemeindeleben teilnehmen. Ziehen sie ein Dorf weiter und möchten sich in ihrer angestammten Kirchgemeinde weiterhin engagieren und Verantwortung übernehmen, soll ihnen dies ermöglicht werden. Es wäre ja dumm, auf solches Potenzial zu verzichten. Wie dies konkret möglich sein wird, ist allerdings nicht in der Verfassung verankert, sondern muss in der Kirchenordnung niedergeschrieben werden.
Ein ganz zentrales Element ist die Möglichkeit zu Gemeindefusionen. Zwingt die Kantonalkirche Kirchgemeinden künftig zu solchen Schritten?
Ganz und gar nicht. Die Kirchgemeinden werden auch künftig selbstständig entscheiden können, ob sie fusionieren wollen oder nicht. Die Kantonalkirche hat weiterhin keine Möglichkeit, ihre Kirchgemeinden zur Fusion zu zwingen. Aber wir müssen nicht mehr die Verfassung ändern oder eine Volksabstimmung durchführen, wenn beispielsweise Hölstein mit Waldenburg-St. Peter fusionieren will. Die neue Verfassung spricht von strategischer Planung, die Kirchenpflegen vor Ort vornehmen sollen. Dazu gehören mögliche Fusionen. Für solche Schritte braucht es einen sauberen, strategisch längerfristigen Prozess. Dieser wird von der Kirchenpflege initiiert, aber von der Kirchgemeinde respektive ihren Mitgliedern mitentschieden und mitgetragen. Dies ist für die Kirchenpflege eine echte Herausforderung.
Aber es muss doch im Interesse der Kirche sein, dass fusioniert wird. Denken wir nur an den laufenden Abbau von Pfarrstellen.
Wir haben unterdessen sechs Kirchgemeinden, die kein 100-Prozent-Pfarramt mehr haben, beispielsweise Rothenfluh mit noch 60 Stellenprozenten. Hier kann man nicht davon ausgehen, dass die Pfarrperson rund um die Uhr da ist und alle Dienstleistungen abdeckt. Da kommt man um eine enge Zusammenarbeit gar nicht herum. Wir stellen in kleineren Kirchgemeinden auch zunehmend Probleme fest, Leute für die Mitarbeit in der Kirchenpflege zu finden. In einer Gemeinde mit 400 Mitgliedern ist schon bald jedes einmal in der Kirchenpflege gewesen. Da braucht es Lösungen, die in einem grösseren Rahmen angegangen werden. Ja, es ist richtig, dass wir Fusionen begrüssen, aber wir können sie nicht verordnen, nur unterstützen.
Wie sieht diese Unterstützung aus?
Wir bieten eine Prozessbegleitung an bis hin zur Kommunikationsberatung. Auch wollen wir Kirchgemeinden, die fusionieren, über eine gewisse Zeit finanziell unterstützen. Handkehrum wollen wir den Finanzausgleich so ändern, dass die heutige starre Regelung, die letzlich zur Strukturerhaltung beiträgt, aufgeweicht wird.
In welcher Hinsicht?
Der Finanzausgleich soll weiterhin aufgrund des Kopfsteuerertrags, des Steuerfusses und der Mitgliederzahlen ermittelt und sogar gestärkt werden. Hingegen wollen wir ihn für kleinere Gemeinden neu ordnen. Heute erhält eine Kirchgemeinde mit 400 Mitgliedern genauso viel Ausgleich wie eine mit 1200 Mitgliedern. Dies hält Strukturen aufrecht, die längerfristig nicht sinnvoll sind.
Also doch ein sanfter Druck vor allem auf kleinere Kirchgemeinden?
Dieser Druck besteht heute schon. Wenn beispielsweise eine Kirche oder ein Pfarrhaus saniert werden muss, fehlt vielfach das Geld. Es passiert nur etwas, wenn goldene Fesseln gelöst werden. Wir haben im Moment noch die nötige Zeit und die finanziellen Mittel, solche Änderungen anzugehen. Aber wir müssen auf allen Ebenen handlungsfähig bleiben, vor allem in den Gemeinden, dort, wo das kirchliche Leben in erster Linie stattfindet.
Sie haben mit Ihren Mitarbeitern kürzlich alle 35 Kirchgemeinden besucht. Wie ist die Stimmungslage dort, besonders im Hinblick auf notwendige Änderungen?
Es gibt Kirchgemeinden, die fühlen sich momentan in ihrem «Nestchen» ganz wohl, sind gut eingerichtet und wollen die Situation nicht unbedingt ändern. Die grosse Mehrheit ist sich jedoch der Herausforderungen bewusst und sagt «Halt, stopp! Wir müssen etwas unternehmen» und sind dafür bereit. Zudem haben wir eine grosse Motivation erlebt, sich für die Kirche einzusetzen. Ich staune immer wieder, wie viel ehrenamtliche Arbeit vor Ort geleistet wird.
Zu den Pfarrpersonen. Gibt es unter ihnen keine Existenzängste mit dem laufenden Abbau von Stellenprozenten? Sie müssen von ihrem Job ja auch leben können.
Existenzängste brauchen sie nicht zu haben. Wir laufen in einen Pfarrmangel, der sich gesamtschweizerisch in naher Zukunft akzentuieren wird. Da werden wir froh sein, überhaupt Pfarrerinnen und Pfarrer zu finden. Die sich abzeichnenden Pensionierungen werden unsere Stellenreduktionen längstens auffangen. Aber es könnte zu Veränderungen kommen und die Garantie, bis zu seiner Rente an derselben Stelle tätig zu sein, wird kaum mehr gegeben sein.
Synodepräsidentin Andrea Heger sprach in ihrem Jahresbericht 2017 im Zusammenhang mit der Umsetzung der Visitationsempfehlungen von einer «Reformation im Kleinen». Eine klare Untertreibung.
Ich traue mich fast nicht, der Synodepräsidentin zu widersprechen (lacht). Im Ernst: Sie hat nicht unrecht. Wenn wir die Kirchengeschichte betrachten, dann ist das, was wir jetzt machen, eine kleine Reformation. In den 1960er- und 1970er-Jahren, als die Mitgliederzahlen noch gewachsen sind, gab es ganz andere Herausforderungen, Stichwort Individualisierung. Sie waren mindestens so gross wie heute. Grundsätzlich heisst unser Grundauftrag, auch weiterhin für die Menschen da zu sein, auf Gott und das Evangelium zu hören und es weiterzugeben.
Was wünscht sich der Kirchenratspräsident für die Zukunft?
Dass die Menschen in dieser Kirche auch künftig davon überzeugt sind, dass wir Vertrauen haben dürfen. Wir machen das, was möglich ist. Was am Ende herauskommt, da vertrauen wir auf einen Höheren.
Info-Veranstaltungen
emg. Im Zusammenhang mit der Vernehmlassung zur Kirchenverfassung, die am 5. November startet, führt die Reformierte Kirche Baselland Informationsveranstaltungen durch: Montag,19. November, 19.15 Uhr in Sissach, und Dienstag, 27. November, 19.15 Uhr in Muttenz.