Erinnerungen an schnelle Zeiten in wilden Zeiten
26.10.2018 Bezirk Sissach, Gelterkinden, SportDaniel Riedo und Hans-Ruedi Wiedmer vor 50 Jahren in Mexiko an Olympia
jg. Heute vor 50 Jahren liefen die Olympischen Sommerspiele in Mexiko, und zwei Oberbaselbieter Leichtathleten hatten ihre Einsätze bereits hinter sich: der heute 76-jährige Daniel Riedo aus Sissach ...
Daniel Riedo und Hans-Ruedi Wiedmer vor 50 Jahren in Mexiko an Olympia
jg. Heute vor 50 Jahren liefen die Olympischen Sommerspiele in Mexiko, und zwei Oberbaselbieter Leichtathleten hatten ihre Einsätze bereits hinter sich: der heute 76-jährige Daniel Riedo aus Sissach und der drei Jahre jüngere Hans-Ruedi Wiedmer aus Gelterkinden. Riedo stand als Hürdenläufer im Einsatz, Wiedmer als Sprinter.
Ihre Erinnerungen an die damaligen Spiele sind noch sehr frisch, zumal die Wettkämpfe aus sportlicher wie auch aus historischer Sicht aussergewöhnlich ausfielen. Stichworte dazu sind Bob Beamons 8,90-Meter-Sprung, der Fosbury-Flop, Doping und die «Black Power»- Fäuste sowie zuvor die blutigen Studentenunruhen im Austragungsland. Das alles erlebten Riedo und Wiedmer indirekt oder sehr direkt mit. Mit ihren Geschichten bestätigen sie, dass 1968 nicht nur für die Politik und die Gesellschaft ein Ausnahmejahr war, sondern auch für den Sport.
An ersten bunten Spielen in den Startblöcken
50 Jahre 68 | Daniel Riedo und Hans-Ruedi Wiedmer an den Olympischen Spielen in Mexiko (V)*
Vor 50 Jahren sind die Oberbaselbieter Leichtathleten Daniel Riedo und Hans-Ruedi Wiedmer an den Olympischen Sommerspielen in Mexiko-City gestartet. Sie sind damit Zeitzeugen der aussergewöhnlichsten Wettkämpfe in der Geschichte der fünf Ringe. Das sind ihre Erinnerungen.
Jürg Gohl
Unüberschaubar sind die Dokumente, Zeitungsausschnitte und Bilder, die sie auf dem Tisch auslegen. Eigentlich sind die Unterlagen überflüssig, denn Daniel Riedo und Hans-Ruedi Wiedmer erinnern sich noch an alles. Die beiden Oberbaselbieter Ausnahme-Leichtathleten nahmen 1968 an den Olympischen Spielen in Mexiko-City teil. Morgen werden seit der Schlussfeier genau 50 Jahre verstrichen sein. Im Einsatz waren sie zwei Wochen vorher gestanden. Obwohl sich nur vier Jahre später – oder eine Olympiade, wie diese Zeitspanne auch genannt wird und damit den Spielen ihren Namen gibt – im Athletendorf von München ein Terror-Anschlag ereignen sollte, lieferte «Mexiko 68» in zeitgeschichtlicher wie in sporthistorischer Hinsicht die denkwürdigsten Olympischen Spiele aller Zeiten. Dies rangmässig noch vor den Hitler-Spielen in Berlin von 1936 mit Jesse Owens und seinen vier Goldmedaillen.
So segelt in der Höhenluft der Anden vor einem halben Jahrhundert ein unbekannter Athlet namens Bob Beamon im Weitsprung auf 8,90 Meter. Der Weltrekord für die Ewigkeit, wie er genannt wird, hat 23 Jahre Bestand. Greg Fosbury juckt mit neuer, eigenwilliger Hochsprungtechnik – der Fosbury-Flop erweist sich als alles andere denn einen Flop – zu Gold. Als nach dem Final der Männer über 200 Meter die Medaillen vergeben werden, recken die US-Sprinter Tommie Smith, der Gold-Gewinner, und John Carlos auf dem Podest ihre in einen schwarzen Handschuh gehüllte Faust in die Höhe, das Zeichen der «Black Power»-Bewegung. 1968 ist auch das Jahr, in welchem erstmals das Wort Doping die Runde macht. Die Jahreszahl steht so im Sport für Veränderungen im Guten wie im Schlechten.
Wiedmer: hinter Tommie Smith
Und ausserhalb des Stadions? Erstmals flimmern die Wettkämpfe in Farbe in die Schweizer Stuben. Bis wenige Wochen davor kennen wir die weite, bunte Welt nur in Schwarz-Weiss. In der Olympia-Stadt wirkt noch der Studentenaufstand nach. Im Sog der 68er-Unruhen protestieren kurz vor den Spielen Abertausende, Militär und Polizei schiessen sie nieder, und über 200 Menschen verlieren bei diesem Massaker ihr Leben. Für den Sport gilt damit zu jener Zeit das Gleiche wie in anderen Bereichen des Lebens. In der Politik, in der Mode, in der Musik, beim Aufbegehren der Jungen gegen die Alten sowie bei der Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von Schwarz und Weiss stehen die Zeichen im Jahr 1968 auf Umbruch.
Der heute 73-jährige Hans-Ruedi Wiedmer, ein Ur-Gelterkinder, und der um drei Jahre ältere Daniel Riedo aus Sissach stecken 1968 als Leichtathleten mittendrin. All diese Ereignisse gehen nicht an ihnen vorbei. «Natürlich wussten wir Bescheid über die politischen Ereignisse, etwa die Ermordung von Martin Luther King und von Bob Kennedy oder den Einmarsch der Russen in Prag», sagen sie. Doch sie konzentrieren sich in jener Zeit voll auf ihre Auftritte auf der Weltbühne des Sports.
Wiedmer hat sich drei Monate zuvor in Paris qualifiziert. Seine handgestoppten 10,2 Sekunden über 100 Meter werden noch heute als Kantonalrekord geführt. Zum Vergleich: Der aktuelle Schweizer Rekord des Baslers Alex Wilson liegt bei 10,11. An diese Zeit kommt er in Mexiko nicht mehr heran und scheidet mit 10,7 Sekunden im Vorlauf aus. Dafür stösst er über 200 Meter mit 21,0 in den Zwischenlauf vor, in welchem er hinter besagtem Sieger Tommie Smith als Siebter ins Ziel läuft.
Riedo: Hürden statt Mehrkampf
Der Sissacher Hürdenläufer Daniel Riedo, der mit Wiedmer und der Staffel des TV Pratteln AS seit 50 Jahren noch immer den prestigeträchtigen Kantonalrekord über 4 mal 100 Meter hält, sprintet in den Halbfinal. Doch auch bei ihm ist die Vorgeschichte nicht minder spannend. Dem gross gewachsenen Riedo wurde zu Juniorenzeiten noch wenig Talent nachgesagt, weil er wegen seines schnellen Wachstums lange als zu unbeweglich galt. «Ich war ein Spätzünder», sagt er, «heute wäre eine solche Karriere undenkbar.»
Qualifiziert für Olympia hat er sich eigentlich als Zehnkämpfer. Weil neben ihm aber drei weitere Schweizer das Limit schaffen, aber maximal drei in Mexiko starten dürfen, begibt sich Riedo auf der kurzen Hürdendistanz auf Limitenjagd. Mit Erfolg. Im Mehrkampf wäre er gesetzt gewesen. Er verzichtet somit freiwillig auf den zweitägigen Wettkampf der sogenannten Könige der Leichtathletik, damit dem Vierten das Erlebnis, in Mexiko starten zu können, nicht verwehrt bleibt. «Damals war das einfach selbstverständlich», sagt Riedo, der damals Schweizer Meister im Mehrkampf wie auch über 110 Meter Hürde war, rückblickend.
Alles neben dem Beruf
Ihre Bestzeiten, die 13,8 von Riedo und die 10,2 von Wiedmer, galten damals als europäische Spitzenzeiten. «Und alles lief neben der Ausbildung und einer Vollzeitstelle im Beruf», sagt Wiedmer stellvertretend für beide. Immerhin erhielt er von seinem Arbeitgeber, der Rohner AG, am Mittwochnachmittag frei, um für die Olympischen Spiele zu trainieren. Und Daniel Riedo wurde von der Coop-Chefetage (damals VSK) 1967 zu einem gemeinsamen Mittagessen mit zwei weiteren Landesmeistern aus demselben Betrieb, Boxer Bela Horvath und Fussballer Karli Odermatt, der seinen ersten Titel gewann, zu einem Mittagessen eingeladen. «Geld gab es aber nicht», sagen sie, «höchstens mal Pralinés oder ein Entrecôte vom Metzger.»
Dabei fanden sie eher zufällig zur Leichtathletik. Wiedmer wollte eigentlich lieber «schutten». «Doch das war damals nicht fein genug, mein Vater sah das nicht gerne», sagt er. Deshalb schickte ihn Dorflehrer Kurt Wirz, dem das Talent nicht verborgen blieb, zum TV Gelterkinden, von dem er zu den Leichtathleten des TV Pratteln AS wechselte. Daniel Riedo war beim Turnverein Giebenach aktiv, der ihm nahelegte, in die Leichtathletik zu wechseln. Erst nach seiner Sprintkarriere erfüllte sich Wiedmer seinen Jugendtraum und schloss sich einem Team im Firmensport an – als pfeilschneller Stürmer.
Die Froschsprünge
Konzentriert auf ihren Sport bekommen die beiden Oberbaselbieter Olympioniken in Mexiko von den Turbulenzen im Land wenig mit. «Wir waren dort abgeschottet und wurden angewiesen, öffentliche Plätze zu meiden.» Zudem trainierten sie viel. Wie Wiedmer erzählt, kann er sich auch mit einem Konkurrenten aus der DDR bestens unterhalten. Das Völkerverbindende, das dem Sport nachgesagt wird, entfaltet sich. Sobald aber ein Offizieller hinzutritt, ignorierte der gleiche Ostdeutsche den Schweizer vollkommen.
Im Training wird Riedo von seinem Trainer Armin Scheurer auf einen ihm unbekannten Sportler aufmerksam gemacht. «Schau die riesigen Froschsprünge an, merk dir sein Gesicht», soll Scheurer geraten haben. «Am Tag darauf sah ich ihn live im Stadion bei seinem legendären Sprung ins nächste Jahrhundert», erinnert sich Riedo. Er ist das Symbol für den Sport im Aufbruchsjahr 1968: Weitspringer Bob Beamon.
* Fünfter Teil der Serie «50 Jahre 68 im Oberbaselbiet». Bisher erschienen: «Die Haare wurden länger, die Röcke kürzer (28. September, Seiete 7), «In der Musik erhalten alte Noten die besten Noten» (4. Oktober, Seite 2», «Die Frauenfrage steht über dem Parteibuch» (12. Oktober, Seite 7); «Ein neues 68 wäre dringend nötig» (19. Oktober, Seite 7). Ende der Serie.