Zwischen Trachten, Schweiss und Heimat
24.06.2025 PersönlichIch weiss nicht, ob Tradition wirklich mein Ding ist. Wirklich nicht. Also nicht im Sinne von: «Ich trage jetzt stolz eine Tracht, gehe dienstagabends zur Jodlerprobe und habe eine Sammlung Edelweisshemden im Schrank.» Mehr so: «Ich stand plötzlich mitten im Geschehen des ...
Ich weiss nicht, ob Tradition wirklich mein Ding ist. Wirklich nicht. Also nicht im Sinne von: «Ich trage jetzt stolz eine Tracht, gehe dienstagabends zur Jodlerprobe und habe eine Sammlung Edelweisshemden im Schrank.» Mehr so: «Ich stand plötzlich mitten im Geschehen des Jodlerfestes in Reigoldswil, sang aus voller Kehle das Baselbieterlied mit – und hatte dabei fast ein bisschen feuchte Augen.»
Vielleicht war es die Hitze. Die war nämlich episch. Ich schwitzte unter meinem Sonnenhut wie ein Bratwurstgrill in der Mittagsglut im «Jodlerdörfli». Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wieso die Jodlerinnen und Jodler in ihren dicken Trachten nicht einfach kollektiv weggeschmolzen sind. Ich schwitzte schon im Schatten – sie standen auf der Bühne in der stickigen Mehrzweckhalle und sangen. Und die Alphornbläser? Mussten auf dem glühend heissen Tennisplatz durchhalten. Heldinnen und Helden in Tracht, ehrlich.
Dabei bin ich eigentlich kein grosser Fan von Tradition. Ich bin oft umgezogen, mein Dialekt ist so durchmischt, dass mich selbst Leute aus dem Baselbiet fragen, woher ich bin. Mittlerweile wohne ich in Basel – und ich bin durchaus gerne in der Stadt, vermissen tue ich meine früheren Wohnorte wenig. Mein Mitbewohner nennt mich liebevoll «City Girl» – was wohl so viel heisst wie: «Du fühlst dich nur heimisch, wenn es mindestens drei Cafés pro Quadratmeter gibt.»
Und doch: An diesem Wochenende geschah etwas Unerwartetes. Ich fühlte mich verbunden. Mit dem Baselbiet, mit den Menschen, mit der Musik – und mit meiner eigenen Vergangenheit. Meiner Kindheit in Ziefen, der Teeniezeit in Reigoldswil, mit Feldern, Wäldern und dem Pausenplatz der Sekundarschule. Und als die Alphörner erklangen, kam so ein wohliges Ziehen im Bauch. Heimat? Vielleicht.
Der Duft von Bratwürsten lag über dem Festgelände wie ein aromatischer Nebel. Ich entschied mich aber für das Schnitzelbrot. Vielleicht nicht ganz traditionell – aber ziemlich gut. Und dann sass da plötzlich Bundesrat Beat Jans beim Festakt in der Turnhalle. In genau der Turnhalle, in der ich als kleines Mädchen noch im Geräteturnen überzeugen musste. Klar, durch meinen Job treffe ich regelmässig Politikerinnen und Politiker – aber irgendwie war das hier anders. Speziell. Vielleicht, weil mir Tradition bisher noch keine Bundesräte geliefert hat. Oder weil es eine seltsame Mischung war aus Sonntagsschweiss, Dorfstolz und hoher Politik. Ich weiss es gar nicht mehr so genau.
Eine Tracht anziehen werde ich trotz aller Heimatgefühle und Baselbieter Stolz aber nicht. Dafür ist es mir zurzeit schlicht zu warm – und das «City Girl» in mir zu präsent. Aber ich habe festgestellt: Man kann sich plötzlich zu Hause fühlen an einem Ort, von dem man dachte, man sei längst weitergezogen.
Vielleicht ist das ja die wahre Kraft von Tradition. Von Heimat. Sie holt einen manchmal heim, auch wenn man gar nicht danach gesucht hat.
Melanie Frei, Redaktorin «Volksstimme»