Zehn Jahre entsorgt
12.08.2025 PersönlichBereits bis zur Hüfte stecken wir in der zweiten Hälfte des Jahres. Vergangene Woche habe ich es endlich geschafft, nach dem ersten auch noch einen zweiten Vorsatz für 2025 umzusetzen. Zu meinem Berufsstand passend schusterte ich mir am letzten Tag des Jahres noch schnell zusammen, ...
Bereits bis zur Hüfte stecken wir in der zweiten Hälfte des Jahres. Vergangene Woche habe ich es endlich geschafft, nach dem ersten auch noch einen zweiten Vorsatz für 2025 umzusetzen. Zu meinem Berufsstand passend schusterte ich mir am letzten Tag des Jahres noch schnell zusammen, wie und wo ich mich bessern will. Umwerfendes nehme ich mir für den Selbstoptimierungsprozess nicht vor. Dafür kenne ich mich schon viel zu lange viel zu gut.
Weniger essen, weniger trinken? Da wir traditionell in einem Haus mit vorzüglichem Keller und ebensolcher Küche ins neue Jahr wechseln und dort jeweils noch zwei Schlemmertage anhängen, verschwende ich daran keinen Gedanken. Den Vorsatz, endlich weniger zu arbeiten, nicht überall zuzusagen und so über mehr Zeit für dicke Schmöker zu verfügen, die ich «für später» aufbewahrt habe, ziehe ich hingegen durch. Mindestens bis zum ersten Anruf der Redaktion im neuen Jahr. Und so fällt nach 213 Tagen die Bilanz ernüchternd aus: Einzig der Vorsatz, auch 2025 nicht plötzlich noch mit dem Rauchen anzufangen, wurde zumindest bisher eingehalten.
Bis ich mir vor ein paar Tagen ein neues Sacktelefon leistete und damit Vorsatz zwei einlöste. «Wow», sagte der Verkäufer, «tatsächlich zehn Jahre alt.» Den Reflex, mir noch über den Kopf zu fahren, konnte er knapp unterdrücken. Seine Verwunderung könnte auch gespielt sein, bestand doch die Schutzhülle nur noch aus Fetzen. Dazu verläuft seit dem letzten Reinigungsversuch ein Riss diagonal über den Bildschirm.
Der Ton erinnert mich ein wenig an meine Kindergartenzeit. Halb so alt wie mein Handy, hielt ich der «Schwester» – sie war tatsächlich eine diabolisch-schwarz gekleidete Nonne – stolz meine Zeichnungen unter die Augen. Darauf liess sie ihr Lob wie einen Sprühregen im Rom dieser Tage über mich niederprasseln. Was dachte die katholische Pädagogin, die mich damals als Reformierten nur bei meinem Nachnamen rief, wirklich? Misstrauen kennt die junge Seele nicht.
Der Verkäufer reisst mich wieder aus meinen Gedanken. «Voilà», sagt er, «alles ist übertragen. Das alte können Sie fortschmeissen – ich meine natürlich: entsorgen.» Das befolge ich nicht. Und so liegen die beiden Geräte nun Seite an Seite neben mir. So wie damals in Deutschland, als das alte noch ganz neu war und ich mich einem risikoreichen Eingriff unterziehen musste. Auf ihm trafen Nachrichten vom Tod naher Verwandter ein; dank ihm sind Bilder vieler wunderbarer Ferien, Feiern und Feste entstanden und nun darauf abgespeichert; mit ihm konnten Freundschaften auf Distanz gepflegt werden; es half mir, da allzeit bereit, aus mancher Notlage; und in Mussestunden versorgte es mich mit einem Sudoku extra scharf.
Und du daneben? Was erleben wir alles gemeinsam? Eines kann ich dir schon jetzt garantieren: So lange wie deinem Vorgänger, der nun nutzlos neben dir liegt, werde ich dir nicht mehr die Treue halten. Das nehme ich mir fest vor.
Jürg Gohl ist Autor «Volksstimme» und Kulturpreisträger des Kantons Baselland 2025