«Wir müssen der EU und der Nato beitreten»
31.12.2024 BaselbietAlex Capus ist ein Geschichtenerzähler, Bestsellerautor und gleichzeitig ein scharfer Beobachter der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in der Schweiz. Medienleute empfängt er mit Vorliebe in der «Galicia Bar» in Olten, deren Eigentümer und Wirt er ist.
...Alex Capus ist ein Geschichtenerzähler, Bestsellerautor und gleichzeitig ein scharfer Beobachter der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in der Schweiz. Medienleute empfängt er mit Vorliebe in der «Galicia Bar» in Olten, deren Eigentümer und Wirt er ist.
Brigitte Keller
Herr Capus, Sie sollen das Geschichtenerzählen in der Beiz gelernt haben. Ihr erstes Buch verkauften Sie selber in Beizen, eine Bar spielt eine grosse Rolle in Ihrem neusten Buch und wir sitzen hier in Ihrer «Galicia Bar». Solche Lokale scheinen in Ihrem Leben eine nicht unbedeutende Rolle zu spielen. Woher kommt diese Liebe?
Alex Capus: Ich bin ein sehr geselliger Mensch. Ich bedaure, dass die Leute immer mehr nur noch auf Social Media befreundet sind. Ich finde, es braucht einen physischen Ort, wo sich Menschen begegnen können. Früher sind die Menschen ja in Beizen gegangen, weil sie in kalten Dachkammern gewohnt haben. Dann haben sie den Abend im «Restaurant Rössli» verbracht, weil es dort schön warm war oder weil sie dort nicht mit der Frau streiten mussten.
Und heute?
Auch heute braucht es Orte, wo man Zeit in Gesellschaft verbringen kann. Viele machen Homeoffice, nicht einmal im Büro sehen sie sich. Dann ist es schon wichtig, dass es Orte gibt, wo man reale Menschen trifft. In der Kleinstadt Olten gibt es nicht Beizen für bestimmte Gruppen. In die «Galicia Bar» oder in den «Rathskeller» gehen alle hin. Man trifft vom Stadtrat bis zum drogenabhängigen Sozialfall alle; das ist interessant, wenn man sich für Menschen interessiert.
Ein älterer Herr klopft an die Tür der noch geschlossenen Bar. Der Wirt offeriert ihm einen Espresso und hält mit ihm einen kurzen Schwatz an der Theke. Der Bekannte übergibt Capus dabei ein Büchlein.
War das jetzt eine typische Situation in Ihrer Bar?
Das ist ein langjähriger Oltner Bekannter, den ich seit 50 Jahren kenne. Er lebt jetzt hauptsächlich in Südfrankreich und hat einen Nachbarn, der ein Büchlein geschrieben hat über die Leute in ihrer Strasse. Er gibt es mir zum Lesen und freut sich, meine Meinung dazu zu hören. Ich lese das gerne. Und ja, es kommen auch Leute, die selber am Schreiben sind und meinen Ratschlag wollen. Aber darin bin ich nicht gut. Ich bin kein Lehrer, der anderen sagt, wie sie es machen müssen.
Eine Bar und ihre Gäste wären für einen Autor eine gute Quelle für Ideen. Sie aber sagen, Sie seien zu anteilnehmender Diskretion verpflichtet. Sie haben gar geschrieben: «Ich bin froh, wenn der Stoff mich in Ruhe lässt …» Können Sie das erläutern?
Ja, und dann passiert es trotzdem. Wenn man eine Geschichte erzählen will, braucht es einen Kern, an dem sich alles kristallisiert. Dann stösst man plötzlich auf etwas, ob historisch oder nicht. Dann muss man sich die richtigen Figuren dazu vorstellen und was die für eine Lebensgeschichte haben, und so entwickelt sich darum herum das Ganze.
Sie behaupten, ausgeglichene, zufriedene Menschen würden keine guten oder gar keine Bücher schreiben. Nur Getriebene würden anfangen zu schreiben und alle Autorinnen und Autoren hätten «einen an der Waffel». Sie also auch?
Also, das meine ich sogar ernst. Es braucht schon eine gewisse Vermessenheit, in was für Künsten man sich auch immer betätigt, dass man meint, man sei einer der wenigen, beispielsweise beim Schreiben, der etwas zu sagen habe, das die anderen lesen sollen. Das ist ja eigentlich eine Anmassung. Und manchmal will es der Zufall, dass tatsächlich eine gewisse Anzahl Leute sich dafür interessiert, was man macht.
Ihr neustes Buch, «Das kleine Haus am Sonnenhang», ist Ihr bisher persönlichstes, sagen Sie. Inwiefern?
Häufig hat man als Autor, versteckt oder verklausuliert, eigentlich sich selber in einem Buch untergebracht als Ich-Erzähler oder als Held oder als Nebenfigur. In diesem Buch ist es jetzt ganz unverklausuliert. Der Ich-Erzähler bin ich. Es ist wirklich nicht fiktionalisiert auf irgendeine Art. Es geht um die Sachen, die mich beschäftigen im Leben. Ich erzähle eine Retrospektive auf mein Leben. Das ist vielleicht auch eine Alterserscheinung.
Ich habe gestaunt, wie lange Sie den schlafraubenden Siebenschläfer im kleinen Haus am Sonnenhang ertragen haben. Aber dann kam doch einmal der Punkt, an dem auch Ihre Geduld zu Ende war. Wo ist Ihre «rote Linie»?
Es ist schon so, ich bin auch im Umgang mit Menschen langmütig. Hier auch, ich bin der Wirt, ich will das Lokal so haben, dass es tolerant ist, die schrägen und krummen Vögel hier ein Daheim haben. Aber das immer innerhalb von gewissen Grenzen. Man kann sich nicht irgendwie benehmen. Es gibt einfach Grenzen, ein paar einfache Gesetze: Keine Gewalt, keine Belästigung, keine Drogen.
Sagen darf man alles?
Nein, wenn einer anfängt, dass die Juden an allem schuld seien, dann sage ich, du bist jetzt still oder sonst kannst du sofort gehen. Es gibt Dinge, die man nicht sagen darf. Naziparolen und Judenhass, das sind so Sachen. Das hier ist meine Bude, da schicke ich jeden hinaus, wenn er nicht still sein kann. Ich finde es wichtig, dass man es nicht einfach hinnimmt. Und manchmal muss ich hinstehen, wenn jemand nicht hören will, und ihn am Schlafittchen nehmen und rausstellen. Das musste ich lernen.
Ein Text Ihres Sammelbands «Die kleinen Dinge des Lebens» handelt von Ihren beiden Grossvätern, die sich recht ähnlich waren. So seien beide nie ohne Hut aus dem Haus gegangen. Haben Sie auch so ein Markenzeichen?
Vielleicht mein altes Postvelo. Das ist so typisch und eigen. Das hat ja auch gar keine Gänge und nur Rücktritt. Das ist mein Fitnessgerät. Es ist nie abgeschlossen, weil in der Stadt jeder weiss: Das ist dem Alex sein Velo. Wenn einer da aufsteigt und wegfährt, kommt er keine 100 Meter weit, bis einer sagt: «Was machst du auf dem Velo vom Alex!?»
Während der Pandemie schrieben Sie, dass Covid gezeigt habe, dass wir in unserem globalisierten Wertesystem zu vieles für unverzichtbar halten, worauf wir besser verzichten würden – und ohne Weiteres könnten. Und heute, drei Jahre später?
Heute wird von allem noch mehr konsumiert als vor der Pandemie. Während der Pandemie sagte man, das wird nie mehr zurückkommen, das Billigfliegen und der Massentourismus – und jetzt bricht es wieder alle Rekorde. Das ist erstaunlich – und gleichzeitig auch nicht. Man hatte auch befürchtet, dass sich das Sozialverhalten der Menschen bleibend verändert haben könnte und man fragte sich, ob man sich weiterhin die Hand oder das Küsschen zur Begrüssung geben würde. Und dann haben die gescheiten Soziologen gesagt: Nein, wir Menschen haben 2 Millionen Jahre lang das Sozialverhalten eingeübt, das haben wir trainiert, das ändert sich nicht so schnell.
«Wir müssen reden – Die Schweiz und ihr Europa-Tabu», haben Sie vor sieben Jahren geschrieben. Wie wünschen Sie sich die Schweiz in Europa?
Da bin ich manchmal fast ein bisschen stolz darauf, dass ich meine Meinung nicht revidieren muss und die Aktualität mir recht gibt. Oder jetzt mit dem Ukraine-Krieg: Selbstverständlich müssen wir uns gemeinsam mit den Nachbarn verteidigungsbereit halten, das kann ja niemand ernsthaft bestreiten. Mich dünkt es eigentlich klar, dass Europa eine gemeinsame Verteidigungsstruktur braucht, in der die Schweiz ihren Beitrag leistet. Aber, dass wir autonom eine Armee haben? Gegen was für einen Feind – diese Frage stelle ich seit 50 Jahren – gegen was für einen Feind wehrt sich diese Armee? Ich meine, irgendeine Armee, die stark genug ist, durch die ganzen Nato-Länder hindurch, bis zu uns zu kommen, da hätte die Schweizer Armee nicht den Hauch einer Chance. Meine Meinung ist: Wir müssen der EU und der Nato beitreten und uns gemeinsam mit unseren Nachbarn verteidigen. Für mich ist das ein Gebot der Vernunft.
Schon vor zwölf Jahren erklärten Sie, dass es immer schwieriger werde, aus einem Meer von Quatsch relevante Informationen herauszufiltern. Die Situation hat sich weiter zugespitzt. Wie gehen Sie damit um?
Ja, das hat sich alles noch verschärft. Ich bedaure das. Ich habe fast mein halbes Leben jeden Morgen Zeitungen gelesen, das war mein Ritual. Irgendwann habe ich sie abbestellt. Ich musste mich immer mehr durch ein Dickicht von «Gugus» durchkämpfen, um etwas Relevantes zu finden. Dabei wäre es eine Aufgabe der Zeitung, mir relevante Sachen zu liefern.
Jetzt haben Sie keine Zeitung mehr abonniert?
Ich lese noch eine englische Zeitung, «The Guardian», für die ich ein Online-Abo habe. Aber es ist nicht dasselbe, ich lese sie auf dem Bildschirm. Ich hätte lieber eine Papierzeitung. Zumindest das Schweizer Radio macht immer noch gute Informationssendungen, «Echo der Zeit», solche Sachen. Die machen noch sehr seriösen, altmodischen Journalismus, den ich sehr schätze. Aber die bauen auch ab, die müssen sparen. Und dann weiss ich genau, was abgebaut wird – nicht die People-Magazine, sondern die seriösen Informationssendungen, die aufwendiger sind und mehr kosten.
Dazu passt, was Sie in einem Interview im Februar gesagt haben. In «Die gute alte Zeit ist jetzt» geht es unter anderem um Ihre Liebe zur Beständigkeit. Wollen Sie an dieser Stelle für Beständigkeit werben?
Ja, ich habe gerne Sachen, die andauern, von denen ich weiss, dass sie am nächsten Tag auch noch da sind. Alleine schon hier in der Bar lege ich Wert auf eine gewisse Zeitlosigkeit. So sind beispielsweise die Stühle gute alte Schweizer Beizenstühle, die halten Jahrzehnt um Jahrzehnt. Ich lege auch Wert auf beständige zwischenmenschliche Beziehungen. Ich bin froh, dass ich seit 30 Jahren verheiratet bin, und zwar mit der gleichen Frau. Aber es ist mir auch klar, dass Beständigkeit eigentlich ein Wunsch ist und dass letztlich nichts beständig ist im Leben und alles vorbeigeht. Es ist alles eine Frage der Zeit.
Welchen Wunsch haben Sie fürs 2025?
Wenn ich einen Zauberstab hätte, würde ich mir wünschen, dass die aktuellen Kriegs- und Krisenherde, die im Brennpunkt sind, und die vergessenen wie im Sudan, befriedet werden könnten.
Wie realistisch ist es, dass der Wunsch in Erfüllung geht?
So etwas gibt es immer wieder. Ich möchte einfach daran erinnern, dass sich 1945 niemand hätte vorstellen können, dass Deutschland und Frankreich in wenigen Jahren zu den besten Freunden werden könnten. Warum soll das nicht andernorts auch gelingen? Immer, wenn alles in Schutt und Asche liegt, könnte plötzlich, wie Phönix aus der Asche, etwas Schönes entstehen. Ja, Hoffnung habe ich immer.
Zur Person
bke. Alexandre «Alex» Capus wurde 1961 in der Normandie als Sohn eines Franzosen und einer Schweizerin geboren. Er verbrachte die ersten fünf Lebensjahre in Paris bei seinem Grossvater, der Polizeichemiker war. 1966 zog er mit seiner Mutter nach Olten in die Schweiz. Er studierte an der Universität Basel Geschichte, Philosophie und Ethnologie und arbeitete daneben bei diversen Schweizer Tageszeitungen als Journalist. Alex Capus lebt heute als freier Schriftsteller in Olten. Zudem ist er Besitzer und Betreiber der «Galicia Bar». Der französisch-schweizerische Doppelbürger ist verheiratet mit Nadja Capus und Vater von fünf Söhnen.