«Wir gehen nicht über den Kopf, sondern das Gefühl»
19.09.2025 Gesellschaft, KulturDie Sozialpädagogin Verena Gauthier aus Lupsingen bringt mit ihrem Impuls Theater Schweiz seit 30 Jahren gesellschaftlich relevante Themen auf die Bühne – interaktiv und immer nahe am echten Leben.
Melanie Frei
Frau Gauthier, wie ist das ...
Die Sozialpädagogin Verena Gauthier aus Lupsingen bringt mit ihrem Impuls Theater Schweiz seit 30 Jahren gesellschaftlich relevante Themen auf die Bühne – interaktiv und immer nahe am echten Leben.
Melanie Frei
Frau Gauthier, wie ist das Impuls Theater Schweiz vor 30 Jahren entstanden ?
Verena Gauthier: Anfang der 1990er-Jahre engagierte ich mich mit einer aktiven Gruppe im Schweizerischen Verband des Personals öffentlicher Dienste in der Suchtprävention. Da ich schon immer eine Affinität zum Theater hatte, entstand die Idee, Theater als Methode in der Suchtprävention in den Gemeinden einzusetzen. Wir brauchten Geld, der Kanton lehnte unsere Anfrage vorerst aber ab. Ich bin dann zum Chef des Bundesamts für Gesundheit (BAG) gegangen, habe ihm das Konzept vorgestellt und er war sofort dabei. Das BAG finanzierte einen Drittel einer Tournee durch das Baselbiet, was den Kanton überzeugte, einen zweiten Drittel zu übernehmen. Etwa zur gleichen Zeit lernten wir Augusto Boal kennen, den Begründer des «Theaters der Unterdrückten», und konnten seinem Schaffen über die Schulter schauen. Seine interaktive Theatermethode hat uns stark geprägt.
Besteht die Finanzierung durch Bund und Kanton immer noch?
Sagen wir einmal Jein. Wir arbeiten in der ganzen Schweiz, da gibt es Kantone, die Prävention, wie wir sie anbieten, subventionieren. Ansonsten werden wir von Institutionen, Gemeinden, Schulen und Firmen engagiert. Die Preise hängen beispielsweise von der Anzahl Schauspieler, Dauer des Einsatzes und Wegzeit ab. Das Jubiläum wird durch den Kanton Baselland, die Stadt Liestal und die BLKB-Stiftung für Kultur und Bildung unterstützt.
orin unterscheidet sich Ihre Theatermethodik von Boals Ansatz?
Boal ging von klaren Unterdrückern und Unterdrückten aus: Die einen sind böse, die anderen gut. Bei uns ist keine Figur einfach nur böse. Im echten Leben hat jeder seine Beweggründe. Genau das berücksichtigen wir, um echte Lösungen zu finden. Viele Konflikte entstehen, weil Menschen sich nicht verstehen oder unterschiedliche Vorstellungen haben.
Nennen Sie ein Beispiel?
Ein behandeltes Thema war häusliche Gewalt. Wir zeigten dabei Gewaltspiralen, ohne handfeste Gewalt zu inszenieren. Inszeniert wurde ein junges Paar, deren Beziehung sich über fünf Jahre immer mehr zuspitzte. Kleine Gesten und Spannungen machten früh Eifersucht, Machtverhältnisse und Grenzen deutlich, die sich zwischen dem Mann und der Frau Schritt für Schritt zu einem Höhepunkt verdichteten.
Wann merken Sie, dass Ihr Publikum richtig mitgeht?
Die Zuschauenden erkennen sich in den gespielten Situationen wieder, da ich die Handlung über ein vom Auftraggeber gewünschtes Thema schreibe. Zu Beginn ist Überwindung nötig, aber dann platzt ihnen wie der Kragen. Wichtig ist nicht, die eine ultimativ richtige Lösung zum Problem oder zum Konflikt zu finden, sondern Impulse für verschiedene Perspektiven zu geben, die Handlungskompetenz zu erweitern.
Arbeiten Sie nur mit ausgebildeten Schauspielern?
Ja. Sobald jemand aus dem Publikum nicht so handelt, wie sie es einstudiert hat, muss die Figur glaubwürdig darauf reagieren. Spontanität ist dabei ausschlaggebend. In der Regel treten wir mit fünf Leuten auf. Je nach Thema suche ich Personen im entsprechenden Alter.
Was machen Sie als Moderatorin?
Ich leite die Interaktion zwischen Schauspielern und Zuschauern an. Das Publikum kann beim zweiten Durchgang intervenieren, auf die Bühne kommen und die Szene verändern. Danach folgt eine moderierte Reflexion: Wir besprechen gemeinsam, was passiert ist, sodass alle aktiv am Prozess teilhaben.
Sie schreiben alle Stücke selber. Wie lange dauert das?
Eigentlich geht es relativ schnell. Nach dem Gespräch mit dem Auftraggeber weiss ich, worum es geht, und entwickle eine Geschichte, die das Thema trifft, aber nicht eins zu eins die Realität des Publikums abbildet. Ideal ist ein halbes Jahr Vorlauf, damit auch die Termine mit den Schauspielern koordiniert werden können. Die Probezeit ist relativ kurz, da die Schauspieler den Text vorher auswendig lernen. Meist reichen eine bis zwei Proben à vier Stunden, da wir uns untereinander gut kennen und alle wissen, wie ich arbeite.
Zu jedem zehnten Jubiläumsjahr erarbeiten Sie ohne Auftrag ein Stück. Was erwartet das Publikum beim Stück «Schnee von gestern» von diesem Jahr?
Das Stück, das wir morgen in Liestal im «Guggeheim» aufführen, behandelt das Thema Corona. Ich war in Kontakt mit Leuten, die von Long Covid betroffen sind. Und ich habe mit vielen weiteren Leuten gesprochen, die sagen, dass die Pandemie ihre Familie gespalten habe. Und doch scheint es ein Tabuthema zu sein. Lassen wir es links liegen? Oder schauen wir es miteinander an und versuchen, es zu verarbeiten?
Gibt es Themen, von denen Sie die Finger lassen?
Wir behandeln grundsätzlich alle Themen, auch schwierige, wie beispielsweise selbstbestimmtes Sterben, das wir einmal in Zusammenarbeit mit der Römisch-katholischen und der Reformierten Kirche Baselland durchgeführt haben. Das sind emotionale Abende, die aber viel auslösen können.
Während einer Aufführung werden zwischenmenschliche Verbindungen aufgebaut. Etwas, das heute unter der Digitalisierung leidet.
Ich merke, dass immer mehr Menschen einsam sind. Nach einem Abend, an dem wir so gearbeitet haben, sind alle miteinander verbunden. Interaktives Theater kann Menschen ein gutes Gefühl geben, dazu zu gehören und wichtig zu sein. Und das physisch, nicht per Klick. Ich glaube, in der Zeit der Digitalisierung verarmen wir in dieser Hinsicht. Es ist nötig, dass es Gegengewichte gibt. Aber die Sehnsucht der Menschen, nicht allein zu sein, wird wiederkommen.
Was ist ein Impuls Theater?
mef. Gegründet 1995 unter der Leitung der Lupsingerin und Sozialpädagogin Verena Gauthier Furrer, arbeitet das Impuls Theater Schweiz mit einem Team professioneller Schauspielender und behandelt Themen wie Gewalt in Beziehungen, Sucht, Mobbing, Demenz oder mit dem aktuellen Stück die Folgen der Corona-Pandemie. Die Schauspielenden zeigen zunächst eine Geschichte mit Konfliktsituationen, die oft eskalieren. In einem zweiten Durchgang darf das Publikum eingreifen, Szenen verändern und Lösungen erproben. Nach jeder Intervention folgt eine Reflexion. So werden Handlungsmöglichkeiten sichtbar, Verständnis für problematisches Verhalten gefördert und neue Perspektiven eröffnet. In 30 Jahren erreichte das Theater rund 30 000 Menschen mit etwa 600 Veranstaltungen und 230 massgeschneiderten Stücken.