Wenn die Fahne fl iegt und das Herz höherschlägt

  05.06.2025 Baselbiet

Pascal Oberli, Obmann der Fahnenschwinger-Vereinigung Nordwestschweiz, im Gespräch

Fahnenschwingen – das klingt nach Heimat, Tradition und nach Muskelkater. Pascal Oberli ist seit knapp 30 Jahren mit Leib und Seele Fahnenschwinger – und Obmann der Fahnenschwinger-Vereinigung Nordwestschweiz. Im Interview spricht er unter anderem über seine Aufgaben beim Nordwestschweizerischen Jodlerfest in Reigoldswil.

Melanie Frei

 Herr Oberli, Sie schwingen seit 28 Jahren die Fahne. Wie kam es dazu?
Pascal Oberli:
Ich war 17 Jahre alt, und bei uns zu Hause war es üblich, abends mit dem Vater die «Tagesschau» zu schauen. Im Intro war jeweils ein Fahnenschwinger zu sehen – das hat mich sofort fasziniert. Zum 18. Geburtstag habe ich dann meine erste eigene Fahne geschenkt bekommen. Und nachdem ich die Autoprüfung bestanden hatte, bin ich zum ersten Training der Fahnenschwinger-Vereinigung Nordwestschweiz nach Kaiseraugst gefahren.

 Sie sind in Seewen auf einem Bauernhof aufgewachsen – aber ohne jodelnde, alphornblasende oder fahnenschwingende Eltern ...
Bei uns zu Hause hatte niemand mit solchen Traditionen zu tun, das wurde mir nicht in die Wiege gelegt. Aber nach meinem ersten Training war es um mich geschehen – das Fahnenschwingen hat mich gepackt und bis heute nicht mehr losgelassen.

 Lange waren Sie im Training einer der Jüngsten. Wie sieht es heute mit dem Nachwuchs aus?
Nicht schlecht, aber auch nicht gut. Vor nicht langer Zeit hat sich unserem Training beispielsweise ein 12-jähriges Mädchen angeschlossen. Aber es ist schon schwierig, Nachwuchs zu finden in der heutigen Zeit. Fahnenschwingen ist nicht gerade hip unter den Jungen. Uns fehlt besonders die Generation der 20- und 30-Jährigen, die zum Beispiel auch an Wettkämpfen mitmachen kann. Bei Jüngeren braucht das lange und viel Durchhaltevermögen. In der ganzen Schweiz gibt es mittlerweile wenig

Fahnenschwinger. Ich habe schon gehört: «Es muss etwas kaputtgehen, damit etwas Neues entsteht». Davon bin ich aber kein Fan.

 Und Ihr eigener Nachwuchs?
Meine Kinder haben auch schon zur Fahne gegriffen. Kinder beobachten, was ihre Eltern tun – und oft weckt das Interesse. Darum bin ich überzeugt, dass diese Tradition weiterlebt. Vielleicht in einer anderen Form.

 Durften Frauen schon immer Fahnenschwingen?
Nein, ursprünglich war das Fahnenschwingen reine Männersache. Frauen waren lange Zeit ausgeschlossen – nicht etwa aus Prinzip, sondern weil ihre traditionellen Trachtenröcke das Schwingen stark behinderten. Eine passende Alternative sah die Trachtenordnung des Eidgenössischen Jodlerverbands (EJV) damals nicht vor, was Frauen faktisch von offiziellen Auftritten ausschloss. Inzwischen ist das zum Glück anders:

Heute steht das Fahnenschwingen allen offen – und genau diese Vielfalt tut unserer Tradition gut.

 Wie oft landet die Fahne nicht dort, wo sie sollte?
Einen festen Richtwert gibt es nicht. Erfahrungsgemäss tun sich jüngere Anfänger oft etwas leichter als ältere, aber grundsätzlich braucht es etwa ein Jahr, bis man die Fahne wirklich gut im Griff hat. Und wie bei allem gilt: Übung macht den Meister – oder die Meisterin. Die Fahne kann aus jeglichen Gründen fallen. Wenn es draussen windet oder eine Beinkombination besonders knifflig ist. Auch regional gibt es Unterschiede: Innerschweizer haben oft einen ganz eigenen Stil, Berner schwingen zum Beispiel eher langsam und ruhig.

Selbst den Profis fällt die Fahne manchmal herunter?
Natürlich. Vergangenes Jahr ist mir das bei jedem Auftritt passiert. In solchen Momenten darfst du dich nicht aus der Ruhe bringen lassen – jeder Schritt von deiner festen Standposition bedeutet Punktabzug.

Worauf kommt es beim Fahnenschwingen an – Kraft oder Koordination?
Die Fahne wiegt mit «Stäcke» zwischen 600 und 800 Gramm – das klingt zunächst nicht nach viel, aber nach ein bis zwei Stunden spürt man das schon. Entscheidend ist jedoch die Technik: Wer sie beherrscht, braucht kaum Kraft.

Nerven braucht es auch, oder?
Auf jeden Fall. Man steht allein im Richtkreis, will überzeugen – und muss es auch. Mir persönlich geht es darum, das Bild des Fahnenschwingers zu vermitteln, so wie man es sich vorstellt. Denn eine Tradition lebt nur, wenn man sie sichtbar macht.

Beim 33. Nordwestschweizerischen Jodlerfest schwingen Sie und  sind als Gesamtobmann an der Bewertung beteiligt. Wie läuft die Juryarbeit ab?
Wir sind zu dritt in der Jury. Der Jury-Obmann bewertet die Schwunghöhe und führt die Schwungkontrolle durch. Ausserdem achtet er auf Harmonie, Wiederholungen, Zeit und spezielle Elemente wie Bein- oder Körperkombinationen. Der Juror 1 konzentriert sich auf Stoffgriffe, Körperhaltung, Verwickler und Tempo. Der Juror 2 achtet auf alles, das sich am Boden abspielt: Schritte, Wippen, den Stockaufschlag und ob die Fahne zu Boden fällt. Insgesamt sind maximal 30 Punkte möglich. Diese werden wie folgt verteilt: Klasse 1: 30–26 Punkte, Klasse 2 mit 25.75–20, Klasse 3 mit 19.75–10 und Klasse 4 mit unter 10 Punkten. Jeder Fahnenschwinger startet mit 26 Punkten, kann aber während seines Vortrags von jeweils 3 Minuten noch Zusatzpunkte (max. 4 Punkte) holen. Dies, indem beispielsweise die Höhe bei den Mittelhochschwüngen 2 Körperhöhen und bei Hochschwüngen 3 Körperhöhen entspricht. Auch mit Beinkombinationen oder Zusatzschwüngen kann man weitere Punkte erzielen.

Und es gibt auch Disqualifikationen?
Ja, die gibt es, aber das kommt sehr selten vor. Zum Beispiel dann, wenn jemand keine korrekte Tracht gemäss «Technische Regulativ» des Eidgenössischen Jodlerverbands trägt. Oder wenn jemand seinen Vortrag trotz des Aufrufs des Obmanns «Bitte weiter!» vorzeitig abbricht, flucht, sich provokativ verhält oder eine ungeeignete Fahne verwendet – etwa keine vollflächige Schweizer- oder Kantonsfahne. Auch eine stark verschmutzte Fahne kann zum Ausschluss führen.

Was machen Sie, wenn Sie einmal nicht schwingen?
Ich führe eine eigene Firma im Bereich der industriellen Automatisierung und im Winter gehe ich sehr gerne Alpin-Snowboarden. Das Fahnenschwingen ist für mich der perfekte Ausgleich – mein Herzblut. Besonders gefällt mir an unserem Verein, dass man allen begegnet – vom CEO über den Bauern bis zum Staatsanwalt. Die Fahne verbindet Menschen.

 


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