Weiterhin ein Testlabor auf Schienen
06.05.2025 BaselbietDie Waldenburgerbahn stellt bald auf teilautonomes Fahren um
Seit 2022 lockt die Waldenburgerbahn ÖV-Experten aus der halben Welt ins Baselbiet. Mitte Jahr folgt der nächste Schritt: Die Vorzeigebahn wird zur teilautonomen Teststrecke. BLT-Technikchef Philipp Glogg erklärt, ...
Die Waldenburgerbahn stellt bald auf teilautonomes Fahren um
Seit 2022 lockt die Waldenburgerbahn ÖV-Experten aus der halben Welt ins Baselbiet. Mitte Jahr folgt der nächste Schritt: Die Vorzeigebahn wird zur teilautonomen Teststrecke. BLT-Technikchef Philipp Glogg erklärt, warum der Wagenführer trotz aller Elektronik an Bord bleibt.
David Thommen
Wir sind mit Philipp Glogg verabredet, dem Technikchef der BLT Baselland Transport AG. Doch wo bleibt er? Noch steht er inmitten einer Gruppe von Technikerinnen und Technikern in der weitläufigen Betriebshalle der Waldenburgerbahn (WB) beim Bahnhof und winkt entschuldigend aus der Ferne. Die Führung für Gäste aus Norwegen dauert etwas länger als geplant.
Solche Besuche gehören zum Alltag: Seit der Eröffnung der runderneuerten WB im Dezember 2022 pilgern Fachleute aus aller Welt ins Tal, um das neue Steuerungssystem zu studieren. «Auch die Stadt Bergen will unser Know-how nutzen», sagt Glogg, nachdem er die letzten Fragen der norwegischen Experten auf Englisch beantwortet und sie verabschiedet hat. Schon jetzt gilt die WB als Vorzeigeprojekt – doch nun steht der nächste Schritt an: Ab Mitte dieses Jahres soll das «teilautonome Fahren» eingeführt werden.
Hinter der unscheinbaren Aussenhülle der gelb-roten Stadler-Züge verbirgt sich Hightech auf Weltniveau: «Jeder Zug ist ein rollendes Rechenzentrum», erklärt Glogg, während wir es uns für das Gespräch in einem der abgestellten Züge bequem machen. Mehr als 200 vernetzte Einzelrechner steuern in jedem Zug Licht, Türen, Sicherheitssysteme und vieles mehr – insgesamt kommunizieren nicht weniger als 2000 Komponenten miteinander. Das Herzstück ist jedoch das «Communication Based Train Control» (CBTC)-System. Zwei Hochleistungsrechner entlang der 13 Kilometer langen Strecke erfassen per Funk zentimetergenau alle Züge und kommunizieren ununterbrochen mit ihnen. «Ohne diese Echtzeitdaten wäre die Automatisierung nicht möglich», betont der 49-Jährige. Zwar verfügen die Züge über eine «gewisse Teilintelligenz», wie Glogg sagt, doch das eigentliche «Gehirn» der Waldenburgerbahn befindet sich auf festem Boden. Würden alle Züge autonom agieren, käme es «schnell zu einem Chaos», wie Glogg lachend sagt.
Aktuell operiert die WB im Automationsgrad «GoA 1+»: Beispielsweise hält der Zug die Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h selbstständig ein. Doch Grenzen zeigt die Technik im Alltag: «Der Zug hält heute noch nicht genau an der Stationsmarkierung», sagt Glogg. Auch bei Störungen wie Hindernissen auf den Gleisen oder bei Wetterextremen muss der Wagenführer manuell eingreifen. Die Software mag sauber arbeiten, doch letztlich spult sie blind ihr Programm ab und ist nicht in der Lage, selbstständig auf Ausnahmesituationen, die es beim Zugbetrieb regelmässig gibt, zu reagieren. Ohne Zugführerin oder Zugführer würde das bald ins Auge gehen.
Glogg zieht zum Vergleich den Autopiloten im Flugzeugcockpit heran: Dieser werde eingeschaltet, sobald alles ruhig und übersichtlich sei, könne aber keine eigenen Entscheidungen treffen. «Vieles ist auch in unseren Zügen automatisiert, um den Zugführer zu unterstützen und zu entlasten. Automatisiert bedeutet aber längst nicht autonom.» Und autonom ist das Ziel der WB.
Ab Mitte Jahr will man sich dem autonomen Betrieb der Bahn mit «GoA 2» zumindest einen Schritt weiter nähern und die Wagenführer zusätzlich entlasten: Sensoren steuern Bremsvorgänge künftig auf plus/minus 5 Zentimeter genau – eine Voraussetzung für die automatische Türfreigabe. Der Zug übernimmt ab dann auch eigenständig die Beschleunigung. Zudem berechnet das System Verspätungen in Echtzeit und koordiniert die Kreuzungen mit entgegenkommenden Zügen auf der weitgehend einspurigen Strecke präziser. «Die Person im Führerstand bleibt aber verantwortlich», betont Glogg. Der Wagenführer überwacht weiterhin den Fahrgastwechsel, bestätigt Abfahrten und greift bei Störungen ein. Steht beispielsweise ein Wanderer zu nah am Gleis, warnt das System zwar – eine Vollbremsung löst es jedoch erst nach der manuellen Freigabe aus. «Automatische Notstopps führen wir erst dann ein, wenn die Elektronik zuverlässig Objekte detektieren kann», so Glogg.
Tausende Kilometer Lernkurve
Angekündigt war das automatisierte Fahren bereits mit dem Beschluss für den kompletten Neubau der Strecke samt der Anschaffung neuer Stadler-Züge. Warum dauert die Umstellung nun schon drei Jahre? «Automation braucht Daten – und die sammeln wir erst seit 2022», stellt Philipp Glogg klar. Die Züge legten seither rund 1,5 Millionen Kilometer zurück
– bei Regen, Schnee und Hitze.
Die Herausforderungen waren vielfältig: Sensoren lösten bei tief stehender Sonne Fehlalarme aus, Software interpretierte Schatten fälschlich als Hindernisse und Funklöcher verzögerten die Kommunikation mit den Streckenrechnern. Jeder Vorfall floss in die Algorithmen ein – 30 Mal wurden sie mittlerweile nachjustiert. «Mitte dieses Jahres sind wir nun bereit für den nächsten Schritt», sagt Glogg. Vom Fernziel, die Waldenburgerbahn einmal ohne Wagenführer zu betreiben, ist man aber noch weit entfernt.
Besonders komplex bleibt der Abschnitt Oberdorf auf der WB-Strecke zwischen Liestal und Waldenburg: Auf 800 Metern kommen sich hier die Bahn, Autos und Fussgänger ziemlich nahe. Gleich drei Sensortypen müssen ganze Arbeit leisten: Kameras an den Zügen erfassen primär Fussgängerströme, Radar entdeckt vor allem Fahrzeuge, und «LiDAR» (Laser-Distanzmessung) prüft Abstände auf plus/minus 2 Zentimeter. Doch was, wenn die drei Sensortypen eine Situationen unterschiedlich interpretieren? «Erst, wenn die Software zuverlässig und reproduzierbar auf die Szenarien richtig reagiert, aktivieren wir auch das System für die automatische Bremsung», erklärt Glogg. Bis dahin trainiert das System mit Millionen von Daten – ein Prozess, der noch einige Jahre dauern wird. Sicherheit stehe an erster Stelle, sagt Glogg. Für Unfälle gebe es in der Schweiz im öffentlichen Verkehr eine geringe Toleranz. Daher schreite man mit der gebotenen Vorsicht voran. Frühestens ab Mitte 2030 werde es voraussichtlich möglich, die WB autonom auf die Strecke zu schicken.
An der Endstation in Waldenburg wird dies schon deutlich früher Wirklichkeit: Noch im laufenden Jahr wird damit begonnen, die wie von Geisterhand gesteuerten fahrerlosen Züge auf dem abgeschlossenen Bahnhofsareal autonom rangieren zu lassen.
Weg zum Automations-Pionier
Glogg, gelernter Elektromechaniker und studierter Elektroingenieur sowie Betriebswirtschaftler, verkörpert den Brückenschlag zwischen Tradition und Innovation. «Ich begann 1992 bei Schindler Waggon in Pratteln mit Schraubenzieher und Lötkolben», sagt er lachend. Heute gilt er bei der BLT als Architekt der Automatisierung und verhandelt mit den Stadler-Fachleuten über KI-Schnittstellen. Die Zusammenarbeit zwischen dem Zughersteller aus der Ostschweiz und dem Baselbieter Transportunternehmen sei sehr fruchtbar, sagt er: «Wir bringen Betriebserfahrung ein, Stadler die Technik. Mittlerweile wird das System weltweit vermarktet – so baut beispielsweise Atlanta in den USA eine Bahn nach unserem Vorbild.»
Bis die Technik ganz ausgereift ist, bleibt die WB so etwas wie ein rollendes Labor – mit allen Konsequenzen. «Fehlalarme oder Verzögerungen nach Updates sind nervig, aber unvermeidbar», räumt Glogg ein. Es sei sogar wahrscheinlich, dass es hin und wieder kleine Rückschläge geben wird – da müsse man ehrlich sein, auch wenn man das immer vermeiden wolle. Mit einer durchschnittlichen Pünktlichkeit von 99 Prozent ist die Waldenburgerbahn laut Glogg jedoch sehr gut unterwegs. Und die BLT könne auf grosse Akzeptanz zählen: «Unsere Fahrgäste wissen, dass sie hier im Tal etwas Besonderes bekommen, was sich viele andere wünschen würden.» Das Waldenburgertal sei dank der WB «ein bisschen Silicon Valley» – und darauf seien viele zu Recht stolz.
Busse sind die Nachzügler
Während die WB bei der BLT vorneweg fährt, hinken die Trams auf den anderen Linien hinterher. Im städtischen Umfeld mit hektischerem und auf vielen Kilometern gemischtem Verkehr sei der autonome Betrieb noch in weiter Ferne, desgleichen bei den Bussen. Hier allerdings will die BLT das automatisierte Einparken im Depot sowie das Bereitstellen der Fahrzeuge am Morgen testen. Das entlastet die Mitarbeitenden im Bereich der Fahrzeugbereitstellung deutlich.
An eine Ausweitung auf den Linienbetrieb sei aber «frühestens in zehn Jahren» zu denken. Bei den Bussen setzt die BLT darauf, dass es die Technologie irgendwann von der Stange zu kaufen gibt: «Wir müssen nicht überall Pionier sein», so Glogg.