Von Waadtländer Wein und Liestaler Schützen
19.09.2025 Bezirk LiestalAm 27. September wird die Liestaler «Schützenstube» wiedereröffnet – wir blicken zurück
Nach einer Pause von gut fünfeinhalb Jahren wird die «Schützenstube» in Liestal bald wiedereröffnet. Die «Volksstimme» erinnert an die ...
Am 27. September wird die Liestaler «Schützenstube» wiedereröffnet – wir blicken zurück
Nach einer Pause von gut fünfeinhalb Jahren wird die «Schützenstube» in Liestal bald wiedereröffnet. Die «Volksstimme» erinnert an die Geschichte des Lokals an der Rathausstrasse, in dem weiterhin dem Bildhauer Jakob Probst Reverenz erwiesen wird.
Dominik Wunderlin
Kurz vor 1800 löste die Helvetische Republik das verknöcherte «Ancien Régime» ab und brachte mit der Handels- und Gewerbefreiheit eine deutliche Zunahme von Gaststätten. Neben den altehrwürdigen Liestaler Gasthöfen «Sonne», «Schlüssel» und «Kopf» (später «Stab») gab es bisher an der Hauptgasse nur die eine oder andere Pinte und nur temporär betriebene Eigengewächswirtschaften, wo nur Wein und kalte Speisen zu haben waren. Nun aber entstanden zunehmend auch richtige Gastwirtschaften, so auch an der heutigen Rathausstrasse 14. Hier wirtete um die Mitte des 19. Jahrhunderts Johann Jakob Gysin.
1862 übergab Gysin den Betrieb seinem Neffen Johann Ludwig Tüller, der 1837 zur Welt gekommen war und früh verwaist von seinem Onkel aufgezogen wurde. Sein richtiger Vater Jean-Marc Tüller (geb. 1806) stammte aus dem waadtländischen Cossonay, war der Liebe wegen in Liestal hängen geblieben und führte hier 1832 die Jungfer Salomea Stutz an den Traualtar. Tüller war rasch «bon patriote» geworden, denn er kämpfte 1831 und 1833 bei den Gefechten gegen die Stadtbasler. Während seine Frau schon 1840 an Typhus verstarb, kam er im Jahr danach von einer Geschäftsreise nach Frankreich nie mehr zurück.
Johann Ludwig (Louis) Tüller war gelernter Metzger und führte seine Wirtschaft als Metzgerwirt, eine Tradition, der auch sein Sohn Louis und Enkel Paul senior bis tief ins 20. Jahrhundert treu bleiben sollten.
Noch bis Mitte der 1960er-Jahre befand sich die Metzg im Hinterhaus an der Mühlegasse. Erst nach dem 1963 erfolgten Erwerb des Nachbarhauses von Schulze-Gysin, wo einst Milchprodukte verkauft wurden und sich zuletzt ein «Villars-Lädeli» (Verkauf von Kaffee und Schokoladen) befand, kam der Metzgerladen an die Rathausstrasse.
Damals erfolgte auch ein Generationenwechsel: Nun stand Robi Tüller an der modernen Fleischtheke, während sein Bruder Paul junior, bislang «Swissair»-Bordkoch, als Wirt und Küchenchef das Restaurant übernahm. In beiden Betrieben waren die Gattinnen der beiden Geschäftsinhaber wichtige Stützen. Doch im Jahr 2000 war Schluss: Die Familie Tüller war ins Pensionsalter gekommen, unter den Nachkommen fand sich kein Nachfolger und es zeigte auch lange weit und breit weder ein Pächter noch ein Käufer Interesse. Nach einer Durststrecke ergab sich zwar beides, doch kurz vor Corona kam im Februar 2020 nach 16 Jahren das zweite Ende. Glücklicherweise fand sich jetzt in der einheimische Zedrima AG von Andreas Hirt ein Unternehmen, das die «Schützenstube» zu neuer Blüte bringen will.
Natürlich lässt sich das Rad nicht zurückdrehen, zum Beispiel in die Zeit um 1960, als Paul senior tagsüber in seiner Fleischerei wirkte, während sich seine Frau Louise als Wirtin um die Gäste sorgte und eine Schwägerin den Kochlöffel schwang. Abends traf man Paul oft in der Wirtsstube an, wo er sich gelegentlich an das neben dem Buffet platzierte Klavier setzte. In seinem Liederheft hatte es manches Stück, das er von sangesfreudigen Gästen aufgeschnappt und notiert hatte. Einiges davon war derb-erotischen Inhalts wie etwa viele Verse über die Wirtin an der Lahn. Zu Gehör kamen auch das «Wy-Liedli» und der «Lieschtler Wirtschaftsreigen», beide gedichtet von Dr. Karl Weber (1880– 1961), unter anderem Redaktor der «Basellandschaftlichen Zeitung» und der «NZZ» und Professor für Journalistik und Zeitungswissenschaft. Da Weber in seinem Reigen die «Schützenstube» unerwähnt gelassen hatte, schrieb Paul Tüller noch den zusätzlichen Vierzeiler: «Will me z Lieschtel vill duet schiesse isch au d Schützestube do dört gsehsch du am Schtammtischegge Schützekönig und eso.»
Unter den vergnügten Zuhörern waren auch häufig Soldaten und Offiziere der Kaserne, Angehörige der Zollschule und Postbeamte, deren Embleme auch auf einer Laterne in der Gaststube zu sehen waren. Am Stammtisch trafen sich Angehörige der altehrwürdigen Schützengesellschaft, und nur am Samstag ab 17 Uhr hielten am selben Tisch die Mitglieder des «Wallholz-Stamms» ihren persönlichen Wochenrückblick.
Neben heimischem Bier wurde dabei vor allem dem «Bursins» zugesprochen. Diesen weissen Waadtländer aus der «La Côte» liessen sich Tüllers seit 1876 jeweils im Spätherbst in Fässern der Familie Cugnet vom Château de la Rosay anliefern. Den Auslöser dazu hatte ein Kontakt zur Prattler Küferfamilie Bielser gegeben, die ins benachbarte Weindorf Gilly ausgewandert war und die Verbindung herstellte. Im Frühling, wenn der Wein ausgebaut war, lud der Wirt jeweils die Stammgäste freudestrahlend zu einer Probe in den Keller ein, bevor man sich später in der Wirtsstube eine Kalbsleberterrine, ein Entrecôte «Café de Paris» oder «Tripes à la mode de Caën» servieren liess. Die Tradition, «Bursins» im Offenausschank anzubieten, galt als Reverenz an den Stammvater der Liestaler Tüller.
«Schützenstube» – «Probst-Stube»
Als Louis Tüller die Wirtschaft seines Ziehvaters übernehmen konnte, hatte sie noch keinen besonderen Namen. Zur «Schützenstube» wurde das Gasthaus erst, nachdem er Feldweibel bei der Baselbieter Scharfschützenkompagnie geworden war.
Wie gross dem Schiesswesen in dieser Wirtschaft früher gehuldigt wurde, konnte keinem Gast entgehen: gewonnene Zinnware von Schützenfesten in einer Vitrine, Wappen- und Buntglasscheiben mit entsprechenden Motiven und der Fahnenkasten der Schützengesellschaft Liestal im grossen Saal im Obergeschoss. Ab1890 gab es daselbst eine ganze Stube, die mit Fahnen, Waffen und Trophäen ausdekoriert war und als Sitzungszimmer der Schützengesellschaft diente. Als man sich aber um 1950 zu einer Modernisierung der Gastwirtschaftsräumlichkeiten entschloss, wurde auch der Stube im Obergeschoss eine neue Bestimmung zugewiesen.
Der Raum mit dem Namen «Probst-Stube» diente in der Folge für kleinere Bankette, Familienfeste und Sitzungen. So tagten hier auch regelmässig die Mitglieder der FDP, was die «Schützenstube» geradezu zur Wirtschaft der Freisinnigen machte. Auch die «Altzofingia Baselland» hielt in dieser Nebenstube 1964 ihren ersten Stamm ab, und 1989 wurde hier auch der lokale «Weinbauverein Suttenberg» gegründet.
Das Besondere an diesem Raum war die künstlerische Ausstattung: Wie die Bezeichnung des Raumes schon verriet, wurden hier rund ein Dutzend Gipsskulpturen und -reliefs vom früher allgemein bekannten Baselbieter Bildhauer Jakob Probst (1880-1966) dauerhaft gezeigt. Gestaltet hatte diese sorgfältig kuratierte Schau der kunstsinnige Architekt Max Tüller (1899- 1978) und Bruder des Metzgerwirts Paul, der auch den ganzen Umbau von 1950 verantwortete.
Eine lebenslange Freundschaft
Wieso aber kam Max Tüller auf die Idee, ausgerechnet dem Reigoldswiler Bildhauer Probst in Liestal eine Dauerausstellung zu ermöglichen? Nach eigenem Bekunden war Tüller schon gegen Ende des Ersten Weltkriegs auf den damals noch weitgehend unbekannten Bildhauer aufmerksam geworden. Mit nicht einmal zwanzig Jahren besuchte er ihn in seinem 1913 an der Basler Güterstrasse eingerichteten Atelier. Probst war gelernter Zimmermann, doch entschloss er sich nach einigen Jahren im Holzbau für ein Architekturstudium in München und dann in Paris. Dort gehörte ein Modellierkurs zur Ausbildung. Dabei kam er in Kontakt mit dem namhaften Rodin-Schüler Antoine Bourdelle, und so kam es, dass er als Folge dieser Begegnung nicht als Architekt, sondern als Bildhauer zurück in die Schweiz kam. Hier ermunterte ihn der Liestaler Kunstmaler und Grafiker Otto Plattner, den (buchstäblich) steinigen Weg eines Künstlers einzuschlagen.
Als Max Tüller den fast 20 Jahre älteren Künstler besuchte und kennenlernte, hatte der Bildhauer seine wahre Berufung bereits gefunden. Und für den angehenden Architekten war diese erste Begegnung der Anfang einer lebenslangen Freundschaft, zu deren Pflege oft Reisen nötig waren.
Denn persönlich zeigte sich der Künstler sogar schon vor seiner Pariser Zeit nur noch selten in seiner engeren Heimat. Von 1931 bis 1963 lebte er dann ohnehin dauerhaft in Peney (heute Ortsteil von Satigny) auf der Genfer Landschaft, wo die in der Nachbarschaft weidenden Pferde zu einem seiner Lieblingsmotive wurden. Die allerletzten Lebensjahre verbrachte er schliesslich im Tessin, in Vira-Gambarogno, wo er sich Freunden wie dem Bildhauer Remo Rossi, dem Kunsthistoriker Piero Bianconi und dem Holzschneider Ugo Cleis, dem Sissacher in Ligornetto, nahe fühlte.
Konflikte
Max Tüller würdigte den Künstler in Publikationen, erstellte mehrere Werkverzeichnisse und engagierte sich bei Ausstellungen. Viel Kraft erforderte eine Beratertätigkeit in Genf, wo erst nach fünf Jahren der richtige Standort für ein grosses Monument für Henri Dunant (eingeweiht 1963) gefunden war.
Es blieb nicht das einzige Mal, dass es Konflikte bei der Ausführung eines Auftrags oder bei der Platzierung gab. So galoppierte auch die Pferdeplastik «Puledro» irgendwann vom Kantonsspitalgarten in den Sissacher Ebenrain Park. Das von Genf abgelehnte Hodler-Denkmal steht als Wehrdenkmal in Olten, und beim Liestaler Wehrmannsbrunnen (1920-23) musste der Künstler nach langer Kontroverse einen Helm hinzufügen, damit die Symbolik verstanden wurde. (Dem entstandenen Ärger zum Trotz wünschte er, dass die Urne mit seiner Asche 1966 unweit des Brunnens in die Mauer eingelassen werde; sie befindet sich also mitten in der Kleinstadt, zu der er vernehmlich eine Hassliebe hatte).»
Dennoch kommt 1980 der damalige «Volksstimme-Chef» und Kunstfreund Hans-Jakob Schaub zur Aussage: «Allerdings hatte Probst stets treue Freunde in Liestal (und in Sissach).» Schaub schrieb diesen Satz zur Retrospektive, die Olten zu Probsts 100. Geburtstag ausgerichtet hatte. Schaub machte die in der Kantonshauptstadt vorhandene, positive Stimmung vorab fest an der «Probst-Stube» in der Schützenstube.
Nische zu Ehren von Jakob Probst
Wie wir schon vor Jahresfrist an dieser Stelle meldeten, konnte die legendäre «Probst-Stube» im Zuge der nun abgeschlossenen Baumassnahmen nicht erhalten bleiben. Doch der in den Augen vieler Kunstsachverständiger grösste Bildhauer weit über unsere Kantonsgrenzen hinaus ist nun in der neuen «Schützenstube» nicht einfach Geschichte. Zwar nicht mehr in der Wirtschaft, aber in einer Nische beim Ausgang in die Mühlegasse wird der Gast unserem Jakob Probst begegnen. Wie uns Bauherr Andreas Hirt auf Anfrage berichtete, wird dort ein Relief präsentiert, das vor zwei Jahren aus der Stube ausgebaut worden war. Somit wird dafür Sorge getragen, dass in diesem Haus dem Künstler auch fortan die Reverenz erwiesen wird. Damit wird auch ein kleiner Beitrag geleistet, damit Probst nicht in unverdiente Vergessenheit fällt.
Dass Liestal nicht Paris ist, ist eine Binsenwahrheit; dort nämlich hat sein Lehrmeister Bourdelle ein eigenes Museum. Den Traum, Ähnliches hier zu gründen, hatte einst ernsthaft Erziehungsdirektor Dr. Leo Lejeune (1915- 1985), und später verfolgte denselben Museumsgedanken auch der umtriebige Reigoldswiler Max Schneider, der sich den Auftrag gegeben hatte, sich um den in Peney verbliebenen Probst-Nachlass zu kümmern und ins Baselbiet zu bringen.
Ab dem 27. September werden Wirtin Céline Furler und ihr Team Gäste im neu gestalteten Restaurant empfangen.