Von Oltingen ins besetzte Frankreich
08.05.2025 BaselbietSebastian Steiger half im Zweiten Weltkrieg jüdischen Kindern und Jugendlichen – trotz der Bedrohung durch die Nazis
Heute vor 80 Jahren endete der Zweite Weltkrieg in Europa. Der in Oltingen geborene Sebastian Steiger setzte sich im Krieg für jüdische Kinder ein. Er ...
Sebastian Steiger half im Zweiten Weltkrieg jüdischen Kindern und Jugendlichen – trotz der Bedrohung durch die Nazis
Heute vor 80 Jahren endete der Zweite Weltkrieg in Europa. Der in Oltingen geborene Sebastian Steiger setzte sich im Krieg für jüdische Kinder ein. Er war Lehrer in einem Kinderheim im besetzten Frankreich, wo seine Aufgaben weit über das Unterrichten hinausgingen.
Janis Erne
Als eine Insel der Geborgenheit in einer düsteren Welt – so beschreibt Sebastian Steiger das Schloss «La Hille», in dem während der deutschen Besatzung Frankreichs jüdische Kinder und Jugendliche untergebracht – oder besser: versteckt – waren. Während die französische Polizei und die deutsche Armee im ganzen Land Menschen verhafteten, folterten, erschossen und in Arbeits- oder Konzentrationslager deportierten, versuchte Steiger zusammen mit anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Schweizerischen Roten Kreuzes, auf dem Schloss im Süden Frankreichs so etwas wie Normalität aufrechtzuerhalten: mit Badeausflügen, Schulunterricht oder Konzertabenden.
Steigers 1992 erschienene Buch «Die Kinder von Schloss La Hille» erzählt von einem der dunkelsten Kapitel der europäischen Geschichte – und von der Rolle der Schweiz in dieser humanitären Tragödie, der Millionen jüdischer Menschen, aber auch Angehörige anderer verfolgter Gruppen – etwa Menschen mit Behinderungen oder politisch Andersdenkende – zum Opfer fielen. Der Autor zeigt auf, wie die Nationalsozialisten unter Diktator Adolf Hitler selbst entlegene Winkel Frankreichs in Angst und Schrecken versetzten. Beinahe hätte Steiger seinen Einsatz für die Menschlichkeit mit dem eigenen Leben bezahlt.
Angefangen hatte alles im Oberbaselbiet. Pfarrerssohn Steiger, geboren 1918, wuchs in Oltingen auf und besuchte dort die Primarschule, ehe die Familie nach Binningen zog, wo der Vater eine neue Stelle antrat. 1943 entschloss sich der 24-jährige Steiger, als junger Lehrer ins besetzte Frankreich aufzubrechen. Er wollte helfen – aber auch Abenteuerlust spielte bei seinem Entscheid, die sichere Schweiz zu verlassen, eine Rolle.
Auf Schloss «La Hille» in den Ausläufern der Pyrenäen, die Steiger an die Schweizer Juralandschaft erinnerten, traf er auf 100 jüdische Kinder und Jugendliche aus Deutschland und Österreich. Sie hatten nach der Reichspogromnacht ihre Eltern zurückgelassen, waren nach Belgien geflüchtet und mussten nach dem dortigen Einmarsch der Deutschen erneut fliehen. In Frankreich fanden sie unter anderem Unterschlupf in Heimen des Schweizerischen Roten Kreuzes – so auch auf «La Hille», einem alten Schloss, das zwar Sicherheit bot, aber kaum Komfort.
Steigers Schilderungen zufolge gab es keine Heizung, kein fliessendes Wasser, geschweige denn ein richtiges WC oder Duschen. Gekocht wurde auf offenem Feuer – Kartoffeln mit einer Sauce aus verdorbener Pulvermilch standen nicht nur einmal auf dem Speiseplan. Auch die medizinische Versorgung war rudimentär. Infektionen und Hautkrankheiten gehörten zum Alltag. Steiger, der die Schlossapotheke betreute und die Kinder versorgte, erkrankte selbst schwer an Gelbsucht. In seinem Buch schrieb er: «Warum bin ich bloss nach Frankreich gegangen, um hier in diesem Loch elendiglich zu sterben …?»
Es ist ein seltener Moment des Zweifelns. Meist überwog bei Steiger während seines zweijährigen Einsatzes die Überzeugung, für etwas Gutes einzustehen. Aus anfänglicher Abenteuerlust wurde ein tiefes Verantwortungsgefühl. Steiger ging so weit, dass er seinen Pass fälschen liess, um damit einem jüdischen Jugendlichen die Flucht in die Schweiz zu ermöglichen. Ein riskanter Schritt: Wer im besetzten Frankreich ohne Ausweispapiere unterwegs war, konnte jederzeit verhaftet und als Widerstandskämpfer hingerichtet werden. Doch Steiger blieb glücklicherweise unbehelligt.
Das Geheimversteck
Seine Erzählungen pendeln zwischen dem behüteten Leben auf dem Schloss in malerischer Landschaft und der allgegenwärtigen Terrorherrschaft der Nazis, die in Südfrankreich ein Marionetten-Regime eingesetzt hatten. Die «La Hille»-Kinder konnten im nahe gelegenen See baden und Spass haben – und nur wenige Stunden später durchsuchten Gendarmen das Schloss nach älteren als 16-Jährigen. Dies, weil die französische Polizei den Deutschen monatlich ein Kontingent an jüdischen Jugendlichen «abliefern» musste. Selten hatte sie Erfolg: Die Jugendlichen versteckten sich in einem alten Zwiebelkeller oder auf dem Dachboden der Kapelle mit einem unauffindbaren Zugang.
Doch nicht alle Schlossbewohner hatten Glück: Einige wurden auf der Flucht in die Schweiz oder nach Spanien gefasst, andere in Frankreich verhaftet und deportiert. Von den 100 Kindern und Jugendlichen, die im Jahr 1942 ins Schloss kamen, überlebten 11 das Nazi-Regime nicht. Doch die Überlebenden waren gezeichnet: Die Angst vor der Gefangennahme war allgegenwärtig. Sebastian Steiger, der viele Kinder wegen Bettnässens behandeln musste, sprach von einem «dauernden Spannungszustand».
In seinem Buch werden Zahlen zu Namen und Persönlichkeiten. Die «La Hille»-Kinder, die Hitler verfolgen liess, waren frech, eigenwillig, sportlich, musikalisch – ganz normale Kinder eben. Was sie erleben mussten, war jedoch alles andere als normal. Neben Steigers Schilderungen geben auch im Buch abgedruckte Tagebuchauszüge der Kinder Einblick in ihr Innenleben: Sie erzählen von ihrer Flucht, dem Vermissen der Eltern und der bangen Frage, ob diese überhaupt noch leben.
Der Stil des Buches ist bildhaft, lebendig, packend – aber auch gespickt mit Humor und Selbstironie. Ohne sie, so lässt sich erahnen, wäre die Nazi-Zeit kaum zu ertragen gewesen. Der Humor zeigte sich, als die Kinder beim Theaterspielen die SS-Leute auf die Schippe nahmen. Die Selbstironie in einer Antwort eines Kindes auf die Frage, was passieren würde, wenn nicht französische Polizisten, sondern deutsche Soldaten das Schloss durchsuchen: «Die würden gar nicht lange suchen. Die würden das Schloss einfach anzünden.»
Grosses Unverständnis
Das 379-seitige Buch, an dem Steiger nach seiner Pensionierung sechs Jahre gearbeitet hatte, behandelt auch das Verhalten der offiziellen Schweiz während des Zweiten Weltkriegs. Mit seinem rigiden Grenzregime überliess der Bundesrat zig jüdische Menschen dem Tod, schaffte es aber, die Schweiz aus dem Krieg herauszuhalten und so Tausende Leben zu retten. Dafür wurden auch Flüchtlinge zurückgeschickt, die es einige Kilometer weit in die Schweiz geschafft hatten.
Für Steiger, der die Gräuel der Nazis aus nächster Nähe erlebt hatte, blieb diese Praxis bis ins hohe Alter unverständlich. «Es war uns ein Rätsel, warum die Schweiz die jüdischen Flüchtlinge, darunter auch unsere ‹La Hille›-Kinder, so schonungslos an die Grenze stellte und dem Tod auslieferte. Ausgerechnet das Asylland Schweiz! Es war eine Schande!», schrieb er in seinem Buch. An anderer Stelle sprach er gar von einer «Tragödie gewaltigen Ausmasses» und einem der «dunkelsten Kapitel der Schweizer Geschichte».
Der Politik, die im Sommer 1942 – mitten im Krieg – ein Einreiseverbot für Ausländer, die allein aus rassischen Gründen verfolgt wurden, verhängte, standen Menschen gegenüber, die aktiv wurden. Etwa der St. Galler Polizeihauptmann Paul Grüninger, der bereits Ende der 1930er-Jahre jüdischen Menschen zur Flucht in die Schweiz verhalf. Oder Mitarbeitende des Roten Kreuzes, die – wie Steiger – Ausweise fälschten oder Jüdinnen und Juden anderweitig zur Flucht verhalfen.
Anne-Marie Im Hof-Piguet, die zusammen mit Steiger auf «La Hille» arbeitete, verhalf einem Dutzend Jugendlichen zur Flucht über das Vallée de Joux im Kanton Waadt – mit Unterstützung ihres Vaters, der dort Förster war.
Die Berichte Betroffener, die Steiger in sein Buch aufgenommen hat, zeigen, wie dramatisch diese Fluchten zuweilen waren: Manche Flüchtlinge – Jugendliche, wohlgemerkt – wurden von Schweizer Soldaten auf den letzten Metern gefasst und zurückgeschickt; andere wiederum erreichten die Schweiz, weil deutsche Soldaten bewusst weggeschaut hatten. «Es gab auch ‹andere Deutsche›, wenn auch nur wenige anständige in Frankreich», schrieb Steiger dazu.
Zwischen der zurückhaltenden offiziellen Schweiz und furchtlosen Flüchtlingshelfern stand das Schweizerische Rote Kreuz. Es wählte in Südfrankreich einen pragmatischen Kurs: Kooperation mit dem Vichy-Regime soweit nötig und immer mit dem Ziel, im Rahmen des Möglichen Verfolgten zu helfen. Ein Kapitel von Sebastian Steigers Buch schildert, wie Maurice Dubois, Leiter der Kinderhilfe des Schweizerischen Roten Kreuzes in Südfrankreich, gemeinsam mit der Schweizer Botschaft 45 inhaftierte Kinder vor der Deportation und damit dem wahrscheinlichen Tod rettete.
Wichtig waren auch französische Familien, häufig Bauern, die jüdische Kinder und Jugendliche versteckten oder aufnahmen. Das geschah teils in Absprache mit dem Roten Kreuz, teils auf eigene Initiative. Nicht immer war man sich in der Hilfsorganisation einig: Während einige Führungspersonen illegale Aktionen wie Fluchtversuche ablehnten, um die humanitären Aktivitäten nicht zu gefährden, konnten einfache Mitarbeitende das Leid häufig nicht ertragen und handelten.
Einsatz über den Krieg hinaus
Am 8. Mai 1945 – heute vor 80 Jahren – endete der Zweite Weltkrieg in Europa, am 2. September ging er auch im asiatisch-pazifischen Raum zu Ende. Mehr als 60 Millionen Menschen verloren wegen des Kriegs ihr Leben. Sebastian Steiger verliess das Schloss «La Hille» im Oktober 1945. Es war ein Abschied mit Wehmut. «Ich wagte die Kinder kaum mehr anzusehen und kam mir wie ein Verräter vor», schrieb er.
Ein Verräter war Steiger selbstredend nicht – im Gegenteil: 1993 ehrte ihn die israelische Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem mit dem Titel «Gerechter unter den Völkern» (die «Volksstimme» berichtete damals über den Anlass, an dem der israelische Botschafter in der Schweiz teilnahm). Die Gedenkstätte zeichnete den Baselbieter nicht nur wegen seines lebensgefährlichen Einsatzes für die «La Hille»-Kinder aus, sondern auch für sein Engagement für die Erinnerungskultur.
Steiger, der nach dem Krieg sein Studium als Heilpädagoge beendete und in Arlesheim und Basel unterrichtete, führte den «Tag des jüdischen Kindes» ein und erzählte in Schulen von seiner Zeit im besetzten Frankreich. 2012 starb er 94-jährig in Basel – nicht, ohne in den Jahrzehnten zuvor mehrere ehemalige «La Hille»- Kinder wiederzutreffen, die längst erwachsen und zum Teil selbst Eltern geworden waren.