Vom Ende der Sachlichkeit
02.05.2025 PersönlichWelcome and bienvenue im neuen Weltzirkus! Alles ist möglich – die Schmerzgrenze wurde abgeschafft. Stil ist überbewertet, wir schämen uns für nichts mehr. Die Medien sind ohnehin immer und an allem schuld. Politische Grundsätze sind nun freigegeben zur Meinungsauktion. Zeit, den Till Eulenspiegel in sich zu entdecken, denn sonst hadert Frau Huth mit folgenden Tatsachen bis zur psychischen Versehrung:
1. Alte weisse Männer dominieren das Geschehen, Männer mit einem Weltbild, das aus der Zeit der Telefonwählscheiben und des Schwarz-Weiss-Fernsehers stammt.
2. Unterstützt von ebenso wild gewordenen konservativen Religiösen jeglicher Glaubensrichtung setzen sie im Namen der jeweiligen göttlichen Einheit den Rechtsstaat ausser Kraft, der uns bisher vor eben dieser Willkür geschützt hat. Und: Sie stellen ihre Autokratien als gottgegeben dar, damit sie endgültig unantastbar werden.
3. Amerika degeneriert zur Irrenanstalt, während Putin in allen Restdemokratien den Glauben an die Staatsform solange mit seinen Trollmaschinen untergräbt, bis sich sein Einmarsch gar nicht mehr lohnen wird. Ohnehin arbeitet ja derzeit schon alles für ihn.
4. Europa ist planlos, seit Wandel durch Handel passé ist. Und weil Europa ohnehin gerade in die erste weltweite Rezession nach dem letzten Krieg hineinschlittert, wird die Bastion Ukraine fallen, was schlicht unentschuldbar ist. Ihr Fall könnte zum unrühmlichen Mahnmal für den Untergang des Friedensprojekts Europa werden.
Ich weiss, es ist unmodern und schrecklich reduktionistisch, aber wie wäre es denn mal mit Haltung statt Taktik? Europa – ja, und auch die Schweiz – könnten es zu ihrer offiziellen Doktrin erklären, die USA ab sofort handelspolitisch zu umschiffen, statt zu Kreuze zu kriechen. Denn es macht etwas mit unserer Würde und unseren Werten, wenn wir unserem Reichtum zuliebe betteln gehen, statt Meinungsfreiheit, Pluralismus und Menschenrechte zu verteidigen. Wenn wir tatenlos zusehen, wie ein politischer Pirat die Justiz ebenso ignoriert wie das Parlament, unschuldige Menschen ins Gefängnis sperrt, Verbrecher daraus hervorholt und sein Kabinett mit ökonomischen Irrläufern besetzt. Kann also die UNO sich bitte ein neues Habitat suchen, die Nato sich scheiden lassen und können Firmen darüber nachdenken, ob es sich wirklich lohnt, bewährte und jahrelange Diversity-Programme einzustampfen? Brauchen wir denn jetzt plötzlich keine weiblichen Arbeitskräfte mehr? Ist ökonomische Logik jetzt ebenso verhandelbar wie die Wissenschaft?
Ich wünsche uns mehr kanadischen Gemeinsinn. Ich wünsche mir eine digitale europäische Sicherheitsstruktur, die uns technologisch unabhängig macht und aus dem Sandwich China-USA herauskatapultiert. Ich wünsche uns weniger Debatten um Migration, sondern die Erkenntnis, dass dieser Diskurs von den wirklich wichtigen Themen ablenken soll. Ich wünsche uns weniger Angst vor Toleranz. Ein Menschenbild wie in den «50ern» rettet uns weder vor der Globalisierung noch vor der künstlichen Intelligenz.
Petra Huth ist Politikwissenschaftlerin und Ökonomin. Sie lebt in Anwil und amtet dort als Gemeinderätin.