Volkskrankheit Aufschieberitis?
24.10.2025 PersönlichKennen Sie den Begriff Prokrastination? Im Volksmund spricht man von Aufschieberitis und bezeichnet damit eine aufstrebende Volkskrankheit. Die Aufschieberitis ist psychologisch untersucht und wird mit fehlender Motivation, Angst vor Versagen, Perfektionismus oder Selbstregulationsproblemen ...
Kennen Sie den Begriff Prokrastination? Im Volksmund spricht man von Aufschieberitis und bezeichnet damit eine aufstrebende Volkskrankheit. Die Aufschieberitis ist psychologisch untersucht und wird mit fehlender Motivation, Angst vor Versagen, Perfektionismus oder Selbstregulationsproblemen beschrieben. In einfach: Man schiebt Aufgaben vor sich her.
Mein psychologisches Profil sieht nun leider so aus: Ich bin der «2-Tage-vor-12-Mensch». Will heissen, ich bin psychologisch nicht stark genug für 5 vor 12, deshalb gebe ich meine Kolumnen zwei Wochen vor Abgabetermin an die Redaktion, bin meistens zu früh am Bahnhof und nie zu spät. Bei meinen Workshops habe ich eine innere Uhr eingebaut und vor Präsentationen kann eine Bombe die Technik zerstören und ich fange immer noch pünktlich an. Ich habe einen übersteigerten Kontrollwahn und hasse Überraschungen. Ich rechne immer mit absolut unwahrscheinlichen Worst-Case-Szenarien und bin überglücklich, wenn sie nicht eintreffen. Ich finde es super, wenn ich mit Menschen arbeiten darf, die ähnlich getrieben sind und stolz darauf, dass ich meinen Tick vererben konnte.
Mein privates Umfeld tickt allerdings nicht ganz gleich, was mich in den Wahnsinn treiben kann. Denn tiefenentspannte Menschen stellen für mich eine Bedrohung dar, womit ich automatisch zum Druckautomaten und damit absolut lästig werde. Der Gatte operiert in diesen kritischen Lagen gern mit der Ansage: «Wenn ich Zeit habe, mache ich das für dich.» Ein klares Signal, um meine Ampel auf Rot springen zu lassen. Denn hier handelt es sich um einen offenen Prozess, ich kann also den Ausgang der Operation nicht kontrollieren.
Während er im Laufe der Zeit effektive Deeskalationsstrategien entwickelt hat, liegt mein Fokus derzeit auf dem deutschen Staat. Anlässlich einer Erbschaftsangelegenheit muss ich feststellen, dass ich mich von meinem Herkunftsvolk entfremdet habe. Denn dieses hat – entgegen seiner DNA – notgedrungen eine Geduld mit seinen Behörden entwickelt, die ich nicht aushalte. Der Erblasser ist vor zwei Jahren hingeschieden. Die Behörden, die seit der Geschichte mit den Steuerdatenexporten weder in die Schweiz telefonieren noch schreiben dürfen, liegen locker anderthalb Jahre im Rückstand – mit allem. Mein Anwalt kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus, wenn ich ihm voller Stolz die durchschnittlichen Rückkommenszeiten von Schweizer Behörden mitteile. Höchstwahrscheinlich wäre er hier arbeitslos. Das Erbschaftssteueramt bemitleidet empathisch meinen fehlenden Realitätsbezug. Sie brauchen die Schweizer Fristen allein nur, um die Zuständigkeiten zu klären.
Zum Thema Worst Case: Frau stelle sich vor, es gäbe Krieg und keiner käme pünktlich. Gut, die Italiener kämen noch später und die Franzosen wären mit Kreditaufnahme beschäftigt.
Neulich habe ich gelesen, dass es ohne Social Media deutlich weniger Aufschieberitis gäbe. Vielleicht bin ich deshalb in den Sozialen Medien allenfalls passiv vorhanden.
Petra Huth ist Politikwissenschaftlerin und Ökonomin. Sie lebt in Anwil und amtet dort als Gemeinderätin.

