Spuren auf dem Estrich
13.05.2025 WenslingenEin ungelöstes Kapitel Schweizer Kriegsgeschichte
Der Wenslinger Paul Gass hat es zeitlebens gern erzählt: Wie er als Jugendlicher beim «Chiirssi günne» miterlebt hat, wie ein Flugzeug im Zweiten Weltkrieg plötzlich über dem Dorf auftauchte und Munition ...
Ein ungelöstes Kapitel Schweizer Kriegsgeschichte
Der Wenslinger Paul Gass hat es zeitlebens gern erzählt: Wie er als Jugendlicher beim «Chiirssi günne» miterlebt hat, wie ein Flugzeug im Zweiten Weltkrieg plötzlich über dem Dorf auftauchte und Munition abwarf. Doch wer sass vor 80 Jahren im Flugzeug? Eine Spurensuche.
Luana Güntert
Der Estrich knarrt unter den Schritten von Andreas Gass. Es riecht nach Staub, Holz, altem Papier. Zwischen vergilbten Familienerinnerungen und alten Möbeln liegt versteckt auf einem Balken etwas, das hier eigentlich nicht hingehört: Munition, jahrzehntealt. Seit mehr als 80 Jahren befinden sich die Patronen auf dem Estrich der Familie Gass in Wenslingen – seit dem Tag, als während des Zweiten Weltkriegs ein Flugzeug über dem Dorf auftauchte. «Mein Vater war jugendlich und mit Freunden am ‹Chiirssi günne›», erzählt Andreas Gass an seinem Küchentisch. Vater Paul (Jahrgang 1925) habe gesehen, wie das Flugzeug sehr tief über dem Wald beim Gebiet «Rüttenen» Richtung Rothenfluh flog und dem Boden immer näher kam. Wohl um Gewicht zu verlieren und damit einen Absturz zu verhindern, warf die Besatzung Gegenstände aus dem Flieger.
«Mein Vater und seine Freunde fuhren mit dem Velo zu jener Stelle im Wald», so Andreas Gass weiter. Vor Ort fanden sie das Abgeworfene: Patronengurte für grosse Maschinengewehre oder Flab-Geschütze, die teilweise noch in den Baumkronen hingen. Vom Gewicht der Patronen rissen einige Äste und das Material krachte auf den Waldboden.
Der Vorfall blieb auch beim Ortspolizisten nicht unerkannt, weshalb er sich ebenfalls schnurstracks zum Ereignisort aufgemacht hatte. «Er hat die Kinder angewiesen, dass niemand etwas mitnehmen dürfe», so Gass. Die Knaben hatten sich jedoch bereits vor der Ankunft des Polizisten ein paar Patronen in den Hosensack gesteckt und verliessen den Wald wieder – mit einem schlechten Gewissen. «Irgendjemand muss das abgeworfene Kriegsmaterial im Wenslinger Wald schliesslich weggeräumt haben.»
Man sprach nicht darüber
Mit der mitgenommenen Munition, die übrigens seit Langem entschärft ist, endet die Geschichte für Paul Gass. Für den ehemaligen Bauern war das Erlebnis bei der Kirschenernte jeweils «das Thema», wenn er seinen Kindern vom Krieg erzählt hat. Wann das Ereignis am Himmel über Wenslingen genau passiert ist und von welcher Kriegspartei die abgeworfenen Patronengurte stammen, weiss Andreas Gass bis heute nicht.
Vater Paul sei vor ein paar Jahren verstorben und als Kind habe er nie nach Details zum Vorfall gefragt. «Es muss jedoch in den ersten oder mittleren Kriegsjahren passiert sein, da mein Vater zum Kriegsende hin in die Rekrutenschule einrücken musste», so Gass. Er geht davon aus, dass damals viele im Dorf den Munitionsabwurf und das tieffliegende Flugzeug bemerkt hätten. «Man hat aber nicht darüber gesprochen.»
Bei einer Sache ist sich Andreas Gass aber sicher: In Wenslingen muss noch jemand anderes – oder gar mehrere Personen – Kriegsmunition zu Hause haben, denn sein Vater war dazumal nicht alleine unterwegs.
Google bringt einzige Antwort
Mit den Infos von Andreas Gass begibt sich die «Volksstimme» auf Spurensuche – in Archiven, im Internet, bei Wenslinger Bekannten der Familie Gass und bei älteren Baselbieter Geschichtsexperten. Am schnellsten fündig wird man im Internet bei der Frage nach der Herkunft der Patronen – die Gravur «DM 4» verrät es: «DM» steht für «Deutsche Modellbezeichnung» und gemäss einigen Google-Einträgen stammt die Munition aus dem Jahr 1944.
Beim «Warum und Wieso» gerät die Recherche ins Stocken. Es kann nur gewerweisst werden, was damals zum Abwurf der Munition in den Wenslinger Wald geführt hat. Denn alle persönlichen Nachfragen und die Nachforschung im Staats- und Bundesarchiv bleiben erfolglos. Es sind schlicht keine Dokumentationen von damals vorhanden. Die offensichtlichste Vermutung liegt darum darin, dass das Flugzeug zu schwer war und die Soldaten deshalb Gewicht loswerden mussten. Was mit dem Grossteil der Munition im Wald geschah, ist ebenfalls unklar. «Ich vermute, dass sie vom Schweizer Militär abgeholt wurde», so Gass.
Engländer über Wenslingen
Im Staatsarchiv findet sich zwar nichts über einen Munitionsabwurf über Wenslingen, jedoch über einen «Abwurf» von Flugblättern: Dies zeigt ein Eintrag in der Rapportkontrolle des Polizeipostens, der auf den 8. August 1942 datiert ist. Polizist Schneider tritt dabei als Kläger auf. In der Spalte «Beklagter» wird ein «Bericht betr. Abwurf von Flugblättern, von engl. Flugzeugen» aufgeführt und in der Spalte «Vergehen» werden «Gedanken des Führers über die Waffen SS» genannt. Zudem ist der Rapportkontrolle zu entnehmen, dass beim Polizei-Kommando geklagt wurde. Worum es bei den Flugblättern konkret ging und ob die Engländer damit Adolf Hitler schlechtmachen wollten, ist nicht klar.
Denn leider sind weder die Klageunterlagen noch die Rapportberichte im Archiv vorhanden. «Die operativen Unterlagen der Kantonspolizei sind in diesem Zeitraum teils lückenhaft», erklärt der wissenschaftliche Archivar Felix Steininger. Die genaue Herkunft und die Geschichte hinter der Munition auf dem Estrich von Andreas Gass werden also wohl noch lange – oder gar für immer – ungeklärt bleiben.