Sinfonie in Beet-Dur
17.06.2025 Persönlich… und so stehe ich nach der langen Vorgeschichte also ganz oben im Garten, auf der Kanzel, wie wir sagen, mit apartem rostigem Tischlein und dem herrlichen Ausblick auf unser Tal. Samstagsapéroplätzchen sagen wir dazu. Wir haben mehreren Orten im Garten Namen gegeben, um zu ...
… und so stehe ich nach der langen Vorgeschichte also ganz oben im Garten, auf der Kanzel, wie wir sagen, mit apartem rostigem Tischlein und dem herrlichen Ausblick auf unser Tal. Samstagsapéroplätzchen sagen wir dazu. Wir haben mehreren Orten im Garten Namen gegeben, um zu wissen, wovon genau die Rede ist. Weiter hinten ist der Reitplatz (weil ziemlich gross) und davor liegt Camp Nou, das neue Pflanzfeld meiner lieben Gemüsefrau. Camp Nou ist inzwischen auch als Stinkfeld bekannt, nachdem der Baggerführer mit seiner Maschine eine riesige Baggerschaufel voller Hühnermist in die magere Erde eingearbeitet hat. Entweder, sagt meine liebe Gemüsefrau, werden wir dort riesige Kartoffeln ernten, oder aber dem Gemüse stinkt es ebenfalls und alles verkümmert. Erste Anzeichen deuten auf Atomgemüse hin, wobei mit Atom nicht die kleinen Teilchen gemeint sind!
Nachdem Tiefbauer mit zwei Baggern zuvor massive Steinterrassen in die steilen Hänge eingezogen hatten, stehe ich nun also oben auf der Kanzel und schaue wie ein feldherrlicher Feldherr über viele Laufmeter mit jungfräulicher Erde auf verschiedenen Ebenen in handlich schmalen und auch mit Bandscheibenschaden gut zu bewirtschaftenden Beeten. Die Gelegenheit, so denke ich bei mir, einen grossen Blumengarten von Grund auf neu anzulegen, bekommst du nur einmal im Leben! Ein weisses Blatt Papier sozusagen, eine riesige leere Leinwand! «Malen mit Samen», reime ich beschwingt, um mich dann noch zu steigern: Ich komponiere eine Gartensinfonie! Üppig, kitschig, opulent, wenigstens in der ersten Zeit. Später darf sich die Natur den Garten wieder krallen, doch im Jahr 1 bin ich hier der Vivaldi!
Auf der Kanzel stehend, rufe ich euphorisch: «Ich zünde ein Feuerwerk, das im Spätsommer seinen gewaltigen Höhepunkt erreicht!» Wie immer lächelt meine Frau milde, wenn ich wieder einmal zu viel Kompost im Kopf habe. (Den mit dem Feuerwerk hatte ich früher schon einmal gebracht. Es feuerwerkte dann vor allem der Giersch.)
Sieben Sektionen zähle ich auf den Terrassen, die es zu bepflanzen gilt. Doch wo beginnen – und womit? Maler und Komponisten haben es ja einfach! Farben und Töne sind sicht- oder hörbar. An uns Blumengartenkünstler werden deutlich höhere Ansprüche ans abstrakte Vorstellungsvermögen gestellt. Wie sieht es in vier Monaten an der Stelle aus, an der ich gerade winzige Samen und Blumenzwiebeln im Boden versenkt habe? Harmoniert die Kombination? Was keimt nicht, was holen die Schnecken und die boshaften Rehe? Was jäte ich aus, weil ich es irrtümlicherweise für Unkraut halte? All das muss bedacht sein! Und habe ich in den Sektionen 2, 3, 5 und 7 tatsächlich schon Samen drin? Oder bin ich dort nicht vielmehr schon drei- bis fünfmal mit meinem botanischen Munitionslager durch? Ratlos stehe ich nun auf der Kanzel und blicke auf meine unvollendete Sinfonie. Ich habe tatsächlich keine Ahnung mehr, wo hier was explodieren wird!
«Vivaldi», sagt meine liebe Gemüsefrau, «hatte die Noten immer notiert.»
David Thommen, Chefredaktor «Volksstimme»