Selleriesalat
10.10.2025 PersönlichHeute verschwand im Coop ein Stück alte Heimat. Wie immer griff ich zu den Joghurts mit Kirschenaroma. Auf den Bechern prangt das Wappen des Kantons Zug, denn die Kirschen stammen angeblich aus «Zuger Ernte». Doch schon seit einiger Zeit stand auf dem Deckel: ...
Heute verschwand im Coop ein Stück alte Heimat. Wie immer griff ich zu den Joghurts mit Kirschenaroma. Auf den Bechern prangt das Wappen des Kantons Zug, denn die Kirschen stammen angeblich aus «Zuger Ernte». Doch schon seit einiger Zeit stand auf dem Deckel: «Vorübergehend mit Baselbieter Kirschen wegen Erntemangel.» Erst hatte mich dieser Satz genervt, denn er klingt so, als wären die Kirschen aus Zug besser als jene aus dem Baselbiet, die man anscheinend nur im Notfall untermischt. Und sowieso: Zug?! Das ist doch diese Steueroase, dieses Briefkastenfirmenparadies, wo die Asozialen wohnen und die Rohstoffhändler sitzen. Wäre es nicht passender, ein Joghurt mit Bezug zum Kanton Zug zu lancieren, das «Glencore Edition» heisst, mit Nickel- und Kupferaroma?
Gut, in Zug ist man mächtig stolz auf die Kirschtorte, die dort vor über hundert Jahren von einem gewissen Heinrich Höhn erfunden worden sein soll. Aber eigentlich gehört so eine Kirschtorte heutzutage verboten, denn sie ist schlichtweg zu ungesund: Japonaiseboden, Buttercreme, Biskuit, Kirschlikör – 3500 Kalorien pro Kilo! Da ist es gesünder, den Kirsch pur zu trinken.
Dann aber kaufte ich die Joghurts mit der Baselbieter Ersatzernte gern. Meine Kinder mögen den süssen Kirschengeschmack – und ich spüre beim Einkaufen wohlige Nostalgie. Bis eben heute. Da war der Satz «Vorübergehend mit Baselbieter Kirschen wegen Erntemangel» vom Deckel verschwunden. Es waren also wieder Zuger Kirschen vorhanden. Und selbstverständlich habe ich diese Joghurts dann nicht gekauft.
Doch es gibt im Coop ein anderes Produkt, das mich an früher erinnert. Es ist der Selleriesalat mit Mayo-Sauce der Paul Goop AG in Allschwil. «Erfunden» hatte diesen Salat ein Fritz Müller-Hartmann, dessen Familienbetrieb im Jahr 2008 von der Paul Goop AG übernommen wurde. Am Selleriesalat wurde (Gott sei Dank!) nichts verändert, weder an der Rezeptur noch am Design der Verpackung.
Als ich ein Kind war, zog einer ins Einfamilienhaus-Neubauquartier unseres Dorfes. Man nannte ihn Sellerie-Müller, denn er war – so hiess es – Besitzer einer Selleriesalatfabrik. Ich habe ihn weder kennengelernt noch je gesehen. Aber immer, wenn ich im Coop den Selleriesalat kaufe, denke ich an das Einfamilienhaus-Neubauquartier, das wir damals in einer Mischung aus Neid und Verachtung bloss «Ghetto» nannten. Es gab dort sogar ein Haus mit Swimmingpool – und jemand fuhr einen schnittigen Rover 3500 Vitesse, ein Auto, das ich zuvor bloss auf einer meiner Quartettkarten erblickt hatte.
Daran muss ich denken, wenn ich den Selleriesalat mit Mayo-Sauce esse. An den Rover, den Pool und noch viel mehr. Eine Gabel voll – und schon bin ich wieder in meiner alten Heimat.
Max Küng wurde 1969 geboren und ist auf einem Bauernhof in Maisprach aufgewachsen. Heute lebt er mit seiner Familie in Zürich und ist ein landesweit bekannter Kolumnenschreiber.

