Sehen, schmecken und begreifen
30.12.2025 GesellschaftChrista Dettwiler
Es ist ein grosses Geschenk, im Alter die Welt noch einmal neu zu entdecken. In Begleitung eines Einjährigen entfaltet sie ihren ganzen Zauber.
Für den «Chnöpperli» ist jeder Grashalm, jeder Käfer, jeder Stein eine ...
Christa Dettwiler
Es ist ein grosses Geschenk, im Alter die Welt noch einmal neu zu entdecken. In Begleitung eines Einjährigen entfaltet sie ihren ganzen Zauber.
Für den «Chnöpperli» ist jeder Grashalm, jeder Käfer, jeder Stein eine Offenbarung. Alles muss genau betrachtet, berührt und gekostet werden. Selbst einem Kuhfladen ist er nicht abgeneigt. Während er die Wunder der Welt entdeckt, mache ich mir Gedanken über den Unterschied zwischen Begreifen und Verstehen. Denn das Greifen ist in «Chnöpperlis» Alter offensichtlich das Wichtigste. Ohne Anfassen kein Begreifen.
Er fordert mich unablässig auf, ihm das, was er sieht, zu benennen. Das mache ich mit zwiespältigen Gefühlen. Ich sage: Baum, Stein, Gras, Brombeeren, Kuh ... Und spüre in dem Moment, wie die Welt schrumpft. Für ihn ist sie Farbe, Form, Duft, Konsistenz, Geschmack – ein sinnliches Kaleidoskop. Mit dem Benennen erstarrt sie, wird eindimensional.
Und da kommt der Unterschied zwischen Begreifen und Verstehen ins Spiel. Der Verstand gibt sich mit der korrekten Bezeichnung zufrieden. Das Begreifen geschieht auf einer anderen Ebene. Ich denke, nur wenn wir etwas begreifen, können wir es auch wirklich verstehen. Der «Chnöpperli» nimmt mich bei der Hand und lässt mich an seiner lebendigen, sinnlichen Welt teilhaben. Wenn er mit mir im Garten hackt und lustvoll in der Erde gräbt, sie zwischendurch auch verkostet wie ein Connaisseur, wird ihr Geruch intensiver, erfahre ich ihre Lebendigkeit stärker, möchte ich am liebsten meine Zehen in den Boden graben, um spüren zu können, wie sie Würzelchen schlagen, Nährstoffe aufnehmen, dem Licht entgegenwachsen.
Wenn er auf einem Grashalm kaut, spüre ich in meinem Mund die grüne Süsse. Wenn er sorgfältig einen Stein greift und mir in die Hand drückt, kommt mir der Fluss in den Sinn, der ihn so perfekt abgerundet hat und nehme die Wärme der Sonne in ihm wahr.
Es ist wahrlich ein grosses Geschenk, im Alter die Welt noch einmal neu zu entdecken.
Eine ganz gegenteilige Erfahrung macht unser neustes Familienmitglied: Willy der Eber. Knapp vier Monate alt, hat er noch nicht viel gesehen von der Welt. Und auf einmal stehen ihm zwei gewiefte Damen gegenüber, die schon seit einiger Zeit auf einen Galan warten. Zuerst aber hat ihm Johnny den Nasenring entfernt – ein dicker Draht, der brutal durch die empfindliche Schnauze getrieben und zusammengedreht wurde.
Die Damen hätte der Ring nicht gestört. Kaum im Gehege, hat sich Lilly auf ihn gestürzt und ihn quiekend durchs Gelände getrieben. Die Sau ist wohlgemerkt mehr als doppelt so gross und schwer wie er. Zwar hat er später redlich versucht, seine Pflicht zu tun, was bei uns Zuschauenden Lachkrämpfe auslöste. Jetzt ist er im Schweinehaus separiert, damit er in aller Ruhe in seine Aufgabe hineinwachsen kann.
Die Journalistin Christa Dettwiler ist 2022 gemeinsam mit ihrem Sohn und dessen Ehefrau von Rünenberg nach Chile ausgewandert. Sie erzählt regelmässig von ihrem Alltag.

